Am Anfang war der Lärm
Wie zur Kompensation für all das wohltemperierte Arthouse-Kino im Programm holt sich das Festival von Cannes jedes Jahr mindestens einen Film ins Programm, der richtig Lärm macht, deshalb aber meist außer Konkurrenz läuft. Mit Mad Max: Fury Road hatten die Programmmacher in diesem Jahr ein besonderes Glück: George Millers hochoktaniges Apokalypsen-Spektakel, obwohl am Tag nach der offiziellen Eröffnung gezeigt, erwies sich als der eigentliche Eröffnungsfilm. Emmanuelle Bercots poseur-haftes Sozialdrama La tête haute vom Vortag war trotz Catherine Deneuve und einem neuerdings "ruggedly-handsome" Benoît Magimel augenblicklich vergessen, sobald sich die Bildermaschine von Mad Max in Bewegung setzte.
Der Film ist ein wüstes, lautes Kinofest, dessen Szenen so packend detailliert und durchrhythmisiert sind, dass man die Augen nicht abwenden kann. Obwohl ungeheuer lärmig, ist Mad Max eigentlich eher ein Stummfilm, die Dialoge sind hölzern und rar, aber tatsächlich passt das zur Inszenierung: es ist als setze sich Miller ganz bewusst ab von den modernen Superheldenfilmen mit ihren digitalen Alles-ist-möglich-Tricks und ihrem endlosen Wise-cracking. Und so leer wie anderweitig behauptet, ist der Plot auch nicht, schließlich geht es um Flucht aus Tyrannei, um Verfolgung und um die Rettung der Menschheit, bzw. der Menschlichkeit in einer postapokalyptischen Wüstenwelt. Keine psychologische Feinzeichnungen, dafür Blicke, jede Menge Blicke: Charlize Theron mit ihrer Stoppelfrisur, wie sie über die Schulter durchs Rückfenster blickt; Tom Hardy, der zweifelnd oder angeekelt der neuesten Bedrohung entgegenschlägt, Nicholas Hoult, der offenkundig staunt. Wie gesagt, es ist wirklich mehr wie Stummfilm als wie Actionkino. Weshalb es auch mehrfachen Szenenapplaus gab.
Interessanterweise geht es auch in dem Film, der hier zum ersten Palmenfavoriten aufstieg, um Tyrannei, Flucht und Verfolgung, die in packender Weise in Bilder und Rhythmus übersetzt wird. Es handelt sich um das Spielfilmdebüt des Ungarn Laszlo Nemes Son of Saul (Saul Fia). Nemes, im Übrigen der einzige Debütant im diesjährigen Wettbewerb, erzählt vom Horror des Vernichtungslagers Auschwitz mit neuem radikalen Erzählansatz: Die Kamera folgt im Wesentlichen einer Person, einem Gesicht: Saul (Géza Röhrig), der als Teil eines so genannten "Sonderkommandos" zur Mitarbeit an den Aufräumarbeiten vor und nach den Vergasungen gezwungen wird. Er meint unter den Opfern eines Tages seinen Sohn zu erkennen und tut nun alles dafür, die Leiche vor dem Krematorium zu bewahren und sie selbst heimlich mit einem Rabbi bestatten zu können. Die Konzentration auf Saul im Zentrum, ermöglicht es dem Film, ihm folgend die verschiedensten Facetten der Naziverbrechen im Konzentrationslager zu zeigen, ohne den Horror und seine Opfer allzu explizit nachinszenieren zu müssen. Die grausigen Aufräumarbeiten in den Gaskammern finden im Hintergrund statt, und büßen dabei nichts von ihrem Schrecken ein. Son of Saul ist ein so konsequenter, dabei packender und erschütternder Film, dass ihm eine der Auszeichnungen in jedem Fall gewiss scheint.
Die anderen bislang im Wettbewerb gezeigten Filme können ihm keine richtige Konkurrenz bieten. Matteo Garrone inszeniert in A Tale of Tales eine Reihe finsterer Märchen aus der Barock-Zeit. Hochkarätig besetzt mit größtenteils englisch-sprachigen Schauspielern, darunter John C. Reilly, Toby Jones und Selma Hayek, gelingt Garrone zwar eine interessante Mischung aus dunkler Komödie und sozialer Parabel, bleibt letztlich aber zu verspielt und eben ein kleines bisschen irrelevant.
Kore-eda Hirokazu stellte mit Our Little Sister ein weiteres seiner stillen, intimen Familiendramen vor. Diesmal geht es um drei erwachsene Schwestern, die noch zusammenleben und nach dem Tod des Vaters, der die Familie als kleine Kinder verlassen hatte, ihre 15-jährige Halbschwester bei sich aufnehmen. Das Mädchen sorgt für allerlei Verschiebungen im Schwesterngefüge, die der Film mit großer Sensibilität registriert. Es gibt keinerlei dramatischen Zuspitzungen, dafür aber eine komplexe Welt von widersprüchlichen, aber auch glücklichen Gefühlen. Ein leiser schöner Film, der gewissermaßen den größten Gegensatz zu einem Film wie Mad Max bietet und damit aber beschreibt, wie groß einmal mehr die Bandbreite des Kinos sein kann.
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