Ende gut, alles gut
Lambert Wilson brachte es als Moderator der Preisverleihung am Samstagabend sehr schön auf den Punkt: Binnen einer Stunde, so sprach er um 19 Uhr, sei Cannes nicht mehr das Zentrum der Welt. Und tatsächlich war um 20 Uhr alles vorbei, die Goldene Palme war vergeben, beweint und bejubelt. Wer sich noch am gleichen Abend etwas abseits der Croisette begab, konnte mit Befremdung feststellen, dass dort tatsächlich über andere Dinge geredet wurde, über Real gegen Atletico etwa, über Europawahlen und Volksentscheide oder über die Ukraine und die bevorstehende Fußball-WM. Ob statt Nuri Bilge Ceylan doch eher Xavier Dolan oder gar Andrey Zvyagintsev die Goldene Palme verdient hätte, das scheint die Welt weniger zu bewegen als es kurz davor noch im Presseraum über dem Palais mit seiner an Hysterie grenzenden Stimmung aus geschienen hatte. Sehr seltsam.
Aber der Reihenfolge nach: innerhalb der Blase namens "Cannes 2014" hatten sich am Abend vor der Preisverleihung die Kritiker auf grob gesagt vier Lager verteilt. Da gab es die glühenden Mommy-Anhänger, erkennbar am gerührten "Auch du?"-Lächeln, dem gelegentlichen Hüpfer und den heller werdenden Stimmen, kaum dass die Rede auf "Xavier" kam. Und da gab es die ernsten Minen der "NBC"(Nuri Bilge Ceylan)-Verteidiger, stets bereit, jedem zu erklären, dass Winter Sleep zwar nicht Ceylans bester Film sei, aber trotzdem als einziger die Goldene Palme verdient hätte, schließlich sei der Türke nach zwei Grand Prix, einem Fipresci- und einem Regiepreis in Cannes nun einfach "reif". Mit blitzenden Blicken und leichtem Spott in den Stimmen fielen ihnen die Zvyagintsev-Jünger ins Wort, die in Leviathan all das gesehen haben wollten, was ihnen in Winter Sleep nur versprochen (vorgesprochen) worden sei. Und dann gab es noch die zugegeben kleinere Gruppe der Bescheid wissend lächelnden Ironiker, denen zum Thema "reif für die Palme" nur einer einfiel: der 83-jährige Jean-Luc Godard ("Immer wenn ich von Gleichheit rede, redest du von Kacke"), der in Cannes doch tatsächlich noch nie auch nur einen Palmwedel gewonnen hat. Nicht alle von ihnen wurden enttäuscht.
Dass Timothy Spall als bester Schauspieler ausgezeichnet wurde, entsprach dem weit verbreiteten Konsens. Erstaunlicher Weise nämlich hatte es keine echten Konkurrenten für Spalls knurrig-grunzende Verkörperung des Romantic-Malers JWM Turner in Mike Leighs Mr. Turner gegeben. Wer – wie ich – zunächst glaubte, dass zwei Stunden Timothy Spall als "funny-looking, fat little man" (so beschrieb Spall Turner und sich selbst in seiner Dankesrede) eine gewisse Anstrengung mit sich bringen würde, sah sich – wie ich – eines Besseren belehrt. Mike Leigh baut sein Maler-Biopic als geruhsam fließende, aber immer zwingende Reihe von Tableaus auf. Es gibt keine dramatischen Zuspitzungen und kaum Konflikte, sondern eben nur Spall als Turner, skeptisch schauend, skeptisch grunzend, den schweren Körper durch Räume und Landschaften schiebend, immer auf der Suche nach dem richtigen Licht und der richtigen Aussicht. Es ist ziemlich spannend! In einer der schönsten Stellen seiner langen Dankesrede bezeichnete er sich selbst als "always the bridesmaid", nun sei er endlich mal die Braut. So richtig schief gehen konnte es danach eigentlich nicht mehr.
Für die beste Schauspielerin war seit Tagen Marion Cotillard gesetzt, die im Dardenne-Film Deux jours, uns nuit eine depressive, von Arbeitslosigkeit bedrohte Frau spielt. Obwohl mit viel Lob bedacht, war doch allgemein zu erkennen, dass die Dardennes für ihren neuen Film nicht ganz so intensiv wie gewohnt geliebt wurden. Als ob sich die gewisse Künstlichkeit von Plot und Film, die sich bei den sonst so für ihre Authentizität Gerühmten eingeschlichen hatte, auch auf ihre Anhänger übertragen hatte. Dass Cotillard am Preisverleihungsabend auf dem Rotem Teppich fehlte, elektrisierte die Stimmung aufs Neue. Wer, wenn nicht Marion? Und dann wurde Julianne Moores Name verlesen und ein Aufschrei der Freude hallte durch die Säle des "Bunkers". Zwar war Maps to the Stars mit nicht mehr als freundlicher Zustimmung aufgenommen worden, aber Julianne Moores überschnappende, übergriffige und über-egoistische Hollywood-Diva ist das zentrale Ereignis des Films, abstoßend und berührend, schockierend und einnehmend zugleich. Leider war Moore am Preisabend nicht da.
Der Rest der Entscheidungen ging dann schnell seinen Gang: Xavier Dolan und Jean-Luc Godard mussten sich für Mommy und Adieu au langage den Jury-Preis teilen. Mit der Fertiggericht-Zeile "der jüngste und der älteste Regisseur zusammen" gab die Jury unter Jane Campion mit dieser Entscheidung den gehetzten Journalisten etwas Warmes in die Hand, ärgerte aber die jeweiligen Fan-Basen um so mehr. Als Mommy-Anhänger tröstete man sich damit, dass es für den 25-jährigen Dolan erstens noch viele Chancen auf zukünftige Palmen geben wird, und es zweitens für ihn gar nicht gut gewesen wäre, jetzt schon eine zu bekommen. Ihn aber mit dem ollen Stinkstiefel zusammenzuwerfen? Der war selbst wie gewohnt nicht da. Und hätte doch gleichzeitig so viel mehr verdient als die Hälfte dieses Jury-Preises, wenn auch nicht unbedingt für die sehr geschwätzige 3D-Schnipsel-Montage Adieu au langage.
Andrey Zvyagintsev musste sich mit dem Preis fürs beste Drehbuch abfinden, er selbst war unübersehbar sehr enttäuscht. Und von allen Jury-Entscheidungen war dies vielleicht die, die am wenigsten Sinn ergab. Denn gerade das Drehbuch mit seiner platten Verknüpfung von Dreiecksgeschichte und Anklage der korrupten russischen Gesellschaftsstrukturen überzeugte an Leviathan am wenigsten.
Dass Bennett Miller für Foxcatcher als bester Regisseur ausgezeichnet wurde, störte auch diejenigen nicht, die dem Film seine Vorhersehbarkeit und eine gewisse psychologische Plattheit (zeigt auf sich selbst) vorgeworfen hatten. Allein die Darstellungen, die er aus seinen drei Hauptdarstellern Channing Tatum, Mark Ruffalo und Steve Carell herausholen konnte, lassen den Preis gerechtfertigt erscheinen.
Mit dem Grand Prix hat Campions Jury Alice Rohrwachers eher kleinem Film Le meraviglie ganz schön etwas zugemutet. Aber man kann die Überschätzung, die darin liegt, auch schlicht akzeptieren: ja, es musste ein Zeichen für die in Cannes stets mangelhaft vertretenen Regisseurinnen gesetzt werden. Deshalb musste es mindestens der Grand Prix sein und im Vergleich zu Naomi Kawases Still the Water war Rohrwachers einfach der frischere und innovativere Film.
Und dann gab es endlich die Goldene Palme für Nuri Bilge Ceylan, und es stellte sich heraus, dass eigentlich doch alle damit leben können. Mir selbst hat Winter Sleep nicht nur Lust gemacht, die drei Stunden und 16 Minuten bei nächster Gelegenheit noch einmal mit besserer Untertitelung zu schauen, sondern auch darauf, Ceylans Gesamtwerk von Kasaba an noch ein Mal mit viel Ruhe nach zu sichten.
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