Berlinale: Sind wir irre, dass wir so leben?
Wie eine Berlinale unter Pandemiebedingungen läuft, ist seit dem Start der digitalen Auflage der Filmfestspiele am Montag klar. Aber gibt es auch schon den Covid-Film? Gibt es eine ästhetische Form, in der sich widerspiegelt, wie das Virus den Alltag der Menschen verändert?
Der Rumäne Radu Jude, der 2015 mit »Aferim!« einen Silbernen Bären gewonnen hatte und nun mit »Babardeala cu bucluc sau porno balamuc« (Bad Luck Banging or Loony Porn) im Wettbewerb ist, geht den Corona-Komplex direkt und mit großem Furor an. Seine Kamera stürzt sich mitten unter die Maskenträger im sommerlich-warmen Bukarest, streift durch enge Wohnungen, überfüllte Kaufhäuser, über Baustellen, durch Verkehrsstaus, um am Ende, nach einem kritisch-satirischen Exkurs in die Geschichte, bei einem Elternabend zu landen, auf dem das unglücklicherweise im Internet verbreitete Privatsex-Video einer freigeistigen Lehrerin diskutiert wird. Die Pandemie erscheint hier als Endpunkt einer Krise, die sich in den Industrieländern des Westens lange angebahnt hat: Sind wir eigentlich irre, dass wir so leben? Man sieht in dem grellen, planvoll hysterischen Film hundert Wege, einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen – und jeder markiert eine politisch-gesellschaftliche Haltung, ein Mehr oder Weniger an Umsicht und Empathie, Leichtfertigkeit oder krassem Egoismus.
Die französische Drehbuchautorin und Regisseurin Céline Sciamma, die mit der lesbischen Liebesgeschichte »Porträt einer jungen Frau in Flammen« einen regelrechten Arthouse-Hit landete, hat sich in den Wald zurückgezogen: Das Virus muss draußen bleiben. Aber »Petite Maman« entstand in einer verschärften Covid-Situation: Drehbeginn war im November. Aus dieser Not macht der Film eine Tugend, er ist ein Lehrstück in äußerster Konzentration: wenige Figuren, ein Schauplatz, verhaltene Interaktion.
Die achtjährige Nelly verbringt mit ihren Eltern ein paar Tage im Wald, um das abgelegene Haus der gerade gestorbenen Großmutter auszuräumen. Nellys Mutter Marion ist vom Ansturm ihrer Kindheitserinnerungen offenbar überwältigt und reist nach kurzer Zeit überraschend ab. Gespenstisch wird es, als das Mädchen den Wald erkundet, der sich hinter dem Haus erstreckt. Erst stößt sie auf eine Baumhütte – genau wie die, die ihre Mutter sich als Kind gebaut hatte. Und dann erscheint ein anderes Mädchen im gleichen Alter, mit verblüffend ähnlichen Zügen. Sein Name ist Marion.
Dass diese Marion, die »kleine Mama«, nicht nur für Nelly sichtbar ist, könnte darauf hinweisen, dass es sich hier um einen echten Fall von »Zeitreise« handelt. Aber der Film wahrt sein Geheimnis. So ein melancholisch-verwunschenes Generationentreffen hat es im Kino vielleicht noch nicht gegeben. In den direkten, pragmatischen Dialogen und den Rollenspielen der Mädchen (Joséphine und Gabrielle Sanz) löst sich auf, was Individuen sonst trennt: Alter, Geschlecht, Herkunft. Wenn nur alle einander so begegnen könnten wie diese beiden, ohne Vorbehalte, auf Augenhöhe.
Frankreich war an den ersten Berlinale-Tagen überhaupt auffällig vertreten, quer durch die Sektionen. Wie Sciamma im Wettbewerb, aber auf klassischere, aufwendigere Weise erzählt ihr älterer Kollege Xavier Beauvois in seinem Drama »Albatros« vom Zerfall der Arbeits- und Sozialstrukturen in der Normandie. In der Reihe Encounters war mit Alice Diops »Nous« ein geduldiges dokumentarisches Porträt des Lebens in den Pariser Vorstädten zu sehen. Im Panorama lief die Independent-Romanze »Le monde après nous« (The World After Us) von Louda Ben Salah-Cazanas, eines der vielen Debüts auf dem Festival. Gemeinsam ist diesen Filmen eine märchenhafte Zuversicht am Rand von Katastrophen und die hinreißende Fokussierung auf die wichtigen Dinge des Lebens: das Kichern zweier Mädchen beim Crêpes-Backen, ein Geplänkel unter Nachbarn, ein spontaner Tanz in einer Einzimmerbruchbude und das französische Allheilmittel: boire une coupe, trinken wir ein Gläschen.
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