Kino als Realpolitik
Um Zahlenrekorde geht es auf Filmfestivals eher selten, doch gen Ende der 66. Internationalen Berliner Filmfestspiele drehte sich alles um die Acht und um einen Superlativ: Acht Stunden dauerte der Wettbewerbsbeitrag »A Lullaby to the Sorrowful Mystery« vom philippinischen Regisseur Lav Diaz, der Film geht damit als der längste Film ein, der je im Wettbewerbsprogramm gezeigt wurde.
Das Berliner Publikum zeigte sich der Herausforderung gewachsen. Zwar gab es den erwarteten Schwund an Zuschauern über die lange Laufzeit hinweg, doch am Ende applaudierte ein immer noch locker gefüllter Berlinale-Palast mit entschiedenem Enthusiasmus. Auch wenn »Lullaby« damit nicht zum Favoriten auf den Goldenen Bären aufstieg, so passte das Historienepos über die philippinische Revolution von 1896 doch in anderer Weise bestens ins Bild der diesjährigen Berlinale – in der Verbindung von politischem Engagement, künstlerischem Anspruch und dem Mut, den Zuschauer ruhig auch mal zu langweilen.
Denn in der Bilanz des Wettbewerbs bestätigen die 66. Filmfestspiele einmal mehr den Ruf der Berlinale als Festival der »Realpolitik«. Anders als in vielen Vorjahren passt diese Vorliebe gegenwärtig wieder ganz in den Zeitgeist. Als Roter Faden zog sich das hoch aktuelle Flüchtlingsthema durch das Festival, und zwar egal, ob die Filme davon handelten oder nicht. Kaum einer der angereisten Stars vergaß, darauf Bezug zu nehmen, von Hollywood-Ikone George Clooney bis zum Querdenker Michael Moore, vom Dänen Thomas Vinterberg bis zur Britin Emma Thompson. Wobei sich Berlin stellvertretend für Deutschland und seine Kanzlerin in einer bis dato ungewohnten Rolle wiederfand: als inspirierendes und oft gelobtes Vorbild.
Im engeren Sinne beschäftigte sich nur ein Film des Wettbewerbs direkt mit der Flüchtlingskrise, der Dokumentarfilm »Fuocoammare« des Italieners Gianfranco Rosi. Darin beobachtet Rosi in großer Ruhe den Alltag mehrerer Bewohner auf der Insel Lampedusa, die aufgrund ihrer geografischen Nähe zu Afrika von vielen Bootsflüchtlingen angesteuert wird. Der Film, der jeden politischen Kommentar vermeidet und damit ganz an die allgemeine Menschlichkeit plädiert, gilt als einer der Haupt-Favoriten auf den Goldenen Bären.
Hochaktuell gab sich auch der zweite Dokumentarfilm des diesjährigen Wettbewerbs, »Zero Days«, in dem der Amerikaner Alex Gibney anhand der Geschichte des »Stuxnet«-Computer-Virus vor der Gefahr der neuen, technologischen Waffen der Kriegsführung warnt. Auch Gibney gilt als Anwärter für eine Auszeichnung.
Zu den großen Favoriten des Festivals gehört dennoch auch ein Film, dessen Thema abseits der großen Diskussionen liegt: Das Frauendrama »L'avenir« der Französin Mia Hansen-Løve, in dem Isabelle Huppert eine Frau im reifen Alter spielt, die ihr Leben neu ordnen muss. »L'avenir« steht tatsächlich für einen Trend, der auf untergründige Weise mindestens ebenso politisch ist wie Flüchtlingsthema und Technologie-Kriege: Selten gab es so viele große Frauenrollen in einem Wettbewerb und noch seltener war es so, dass die Filme mit den stärksten Frauenrollen zugleich die stärksten Filme sind. Neben Isabelle Huppert und »L'avenir« gilt das auch für Julia Jentsch, die im deutschen Beitrag »24 Wochen« mit den schwierigen Fragen einer Spätabtreibung ringt. Und vor allem für die Dänin Trine Dyrholm, die in Thomas Vinterbegrs Film »Kommune« auf bewegende Weise an ihren eigenen Idealen scheitert.
Die großen männlichen Rollen dagegen gab es in den eher enttäuschenden Filmen wie etwa dem altbackenen Schriftstellerdrama »Genius« mit Colin Firth und Jude Law, oder der eher blutleeren Fallada-Verfilmung »Jeder stirbt für sich allein« mit Brendan Gleeson. Als bester Darsteller kann sich deshalb der Tunesier Majd Mastura Chancen ausrechnen, der im Gegenwartsdrama »Hedi« die Hauptfigur spielt. Allerdings müsste er sich gegen den großen Ulrich Thomsen durchsetzen, der in »Kommune« neben Trine Dyrholm zwar die kleinere Rolle hat, die aber umso markanter mit überraschendem Humor und Tiefgang ausfüllt. Beide könnten jedoch gut auch vom 17-jährigen Kacey Mottet Klein ausgestochen werden, der in André Téchinés »Being 17« sein schwules Coming-of-Age in einer Kleinstadt in den Pyrenäen erlebt.
Den Preis für das beste Drehbuch aber hätte zweifellos der Bosnier Danis Tanovic verdient. In »Tod in Sarajevo« bringt er in so dicht geschriebener Weise die historische Perspektive mit den aktuellen sozialen Spannungen in seiner Heimat zusammen, dass er in 90 Minuten mehr und komplexer erzählt als der achtstündige »Lullaby«.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns