Wolken über Oakland
Wenn ich „Hell's Angels“ von Howard Hughes, dessen 4-K-Restaurierung im Rahmen der „Berlinale Classics“ läuft, ein heroisches Fiasko nenne, was wiegt dann schwerer in Ihren Augen: das Hauptwort oder das Adjektiv? Für Martin Scorsese steht die Antwort fest. Ich bin ihr nach langem Schwanken beim Wiedersehen zumindest einen großen Schritt näher gekommen.
Allerdings ist bei Hughes' wahnwitzigem Fliegerfilm (heute noch einmal zu bestaunen) das Eine nicht ohne das Andere zu haben. Er war ein grandioser Betriebsunfall (verflixt, noch ein Oxymoron) im Hollywoodsystem. De Produktion lief völlig aus dem Ruder. Die Dreharbeiten begannen Ende Oktober 1927 und zogen sich drei Jahre hin. „Hell's Angels“ wurde als Stummfilm begonnen, der William Wellmans Oscar-Gewinner „Wings“ in den Schatten stellen sollte - Blockbuster gehorchten schon damals dem Diktat der Überbietung. Der Aufwand, den der Millionenerbe aus Texas betrieb, war einzigartig: 35 Kameras, 80 Flugzeuge, 137 Piloten und 2000 Statisten kamen zum Einsatz. Auf halber Strecke jedoch sah Hughes voraus, dass die Zukunft dem Tonfilm gehörte. Ein paar nachträgliche Toneffekte und eine synchrone Filmmusik genügten dem Perfektionisten nicht, er drehte den Film kurzerhand noch einmal neu – nicht komplett, wie oft kolportiert wird, aber zu fast zwei Dritteln. 50 Kilometer Filmmaterial soll Hughes insgesamt belichtet haben. Am Ende verschlang die Produktion fast drei Millionen Dollar (und war damit der bis dahin zweitteuerste Film nach „Ben-Hur“), verschliss zwei Regisseure, mehrere Kameraleute sowie eine Handvoll Drehbuchautoren. Mindestens drei Piloten und ein Mechaniker kamen ums Leben.
Als „Hell's Angels“ im Mai 1930 Premiere feierte, war er also bereits eine Legende. Der reguläre Kinostart verschob sich, weil Hughes immer noch nicht mit dem Schnitt zufrieden war. Der Kassenerfolg war zwar kolossal, aber nicht groß genug, um die Produktionskosten zu decken. In Deutschland kam er als „Höllenflieger“ heraus. Inzwischen war Hughes zudem eine mächtige Konkurrenz durch den ähnlich gelagerten Kriegsfilm „The Dawn Patrol“ zugewachsen, der damals teuersten Warner Bros.-Produktion, die allerdings nur ein Fünftel seines Budgets kostete. Sie glänzte mit dem besseren Regisseur (Howard Hawks), den versierteren Drehbuchautoren (u.a. John Monk Saunders) und charismatischeren Darstellern (Richard Barthelmess, Douglas Fairbanks jr), konnte mit Hughes' spektakulären Flugszenen aber nicht konkurrieren.
Auch darin nimmt sein Film die Regeln des Blockbusterkinos vorweg: lautstarke Sensationen, aber ein mittelprächtiges Drehbuch. (Warum Hughes nicht von vornherein den Kriegsveteranen Saunders engagierte, der mit der Tochter seines Onkels verheiratet war, ist mir ein Rätsel.= Es handelt von drei Studienfreunden in Oxford, die der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu Gegnern werden lässt. Die ungleichen Brüder besuchen eingangs ihren Kommilitonen Karl in seiner Heimat. Der Schwerenöter Monte wird von einem Ehemann, dem er Hörner aufgesetzt hat, zum Duell gefordert. Indes flieht er rechtzeitig und sein Bruder tritt an seine Stelle – ein Missverständnis, welches das Buch nie aufklärt, obwohl die Zwei dem Duellanten später als Kriegsgefangene wieder begegnen werden. Eine weitere Erwartung, die das Drehbuch nicht erfüllt: Es kommt nie zu einer direkten Konfrontation mit dem alten Freund aus Oxford.
Wohl aber zu einer unwissentlichen Begegnung, denn Karl gehört zur Besatzung eines Zeppelins, gegen den die britische Fliegerstaffel antreten muss. Mit dem Auftauchen des Luftschiffes, das zwischen den nächtlichen Wolken wie eine Bedrohung aus einer fernen Welt erscheint, erwacht der Film zu echtem Leben. Es ist eine der wenigen Sequenzen, die nicht nur viragiert, sondern in Farbe gedreht wurden. Sie ist atemberaubend und pfiffig. Karl, der in einer winzigen Flugkabine, gleichsam als menschliches Periskop heruntergelassen wird, verhindert den Bombenabwurf über Trafalgar Square, in dem er den Zeppelin zu einem See navigiert. Beklemmend ist die Bereitschaft der deutschen Rekruten, für Kaiser und Vaterland in den Tod zu springen, damit das Luftschiff leichter wird – ein grimmiges Pendant zur imperialen Hörigkeit in „Seisakus Frau“.
Eine weitere Farbszene spielt während eines Balls in einem englischen Landhaus, wo sich ein Dreieckskonflikt zwischen den Brüdern und Helen ankündigt, der leichtlebigen Adligen, in die Roy heil- und ahnungslos verliebt ist. Diese Sequenz konnte übrigens restauriert werden dank einer Filmkopie, die aus der Privatsammlung von John Wayne stammte. Im finalen Dogfight zwischen den britischen Fliegern und einer deutschen Schwadron, die natürlich vom Roten Baron Richthofen angeführt wird, wächst der Film dann endgültig über sich hinaus. Die Kamera scheint überall gleichzeitig zu sein und ist stets hautnah dran; sie stellt neue Maßstäbe für den Realismus von Kriegsszenen auf. Die Todesschreie eines getroffenen Kameraden der Brüder habe ich heute noch im Ohr.
Die Regie der Dialogszenen übertrug Hughes dem Weltkriegsveteranen James Whale, der später durch seine „Frankenstein“-Filme berühmt wurde, zu diesem Zeitpunkt aber noch über keinerlei Filmerfahrung verfügte. Beim Wiedersehen hat mich verblüfft, wie wenig hölzern die Dialoge klingen, sogar die in deutscher Sprache. Der Legende nach verzweifelte Whale ob der Unerfahrenheit von Jean Harlow, die hier ihren ersten großen Leinwandauftritt in tief, sehr tief dekolletierten Kleidern hat. Als verruchte Helen irrlichtert sie einigermaßen munter durch die Geschehnisse. Der Weg zur trefflichen Komödiantin ist noch weit, aber Harlow wird ihn in Windeseile zurücklegen. Die Binnenspannung zwischen den solide-konventionellen Dialogpassagen und der Kinetik der Luftschlachten ist groß, sie trägt den Film.
„Hell's Angels“ ist ein Lieblingsfilm von Martin Scorsese, der ihn als Filmstudent entdeckte. In der ersten halben Stunde von „The Aviator“ setzt er Hughes visionärem Ungestüm ein Denkmal. Es inszeniert die Dreharbeiten als bizarres Schelmenstück. Leonardo di Caprio spielt ihn als einen Außenseiter, einen Abtrünnigen in Hollywood, der die dortigen Regeln noch nicht kennt – die Szene, in der er Louis B. Mayer bittet, ihm zusätzliche Kameras zu leihen (er hat schon 24, braucht für den Dogfight aber noch zwei mehr, ist köstlich. Hughes ist ein Genie darin, Geld auszugeben, allein seiner Maßlosigkeit und seinem Perfektionismus verpflichtet. Dass er den Stummfilm mit einer Tonfassung überschreibt, ist ein Handstreich, der Scorsese glühend fasziniert. Er zeigt, wie Hughes unablässig dazulernt. Man bekomme kein Gefühl für das Tempo der Flugzeuge, stellt er zwischendrin fest, weil es keinen Kontrast im Hintergrund gibt. Für diese „relative motion“ braucht er Wolken. Die sind in Südkalifornien chronisch selten, also muss ein Meteorologe her, den Ian Holm enthusiastisch leidgeprüft verkörpert. Endlich hat er den erhofften Wetterbericht: In Oakland wurden die gewünschten Cumulus-Wolken gesichtet! Umgehend setzt sich die Armada („the largest private Air Force in the entire world“) in Bewegung. So viel Chuzpe bewies später nur noch David Lean, der bei „Ryans Tochter“ monatelang auf die richtigen Wolkenformationen wartete.
Scorsese liebt solche Mavericks, denen der filmische Selbstausdruck über alles geht. Hughes' Kühnheit ist für ihn ein neuerlicher Anlass zur Verherrlichung. Der Regisseur von „The Aviator“ fiebert mit, wie Hughes von Minute zu Minute mehr in diese Rolle hineinwächst. Er besitzt Filmverstand. Bei der triumphalen Premiere hat er nur die Fehler vor Augen: Rolle 4 muss kürzer werden, da wurde zu viel gehustet. Ein Regisseur wird Hughes bei diesem Abenteuer nicht, aber ein Filmemacher.
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