Ungewisser Zwischenakt
Vor langer Zeit veranstalteten einige Kollegen und ich alljährlich eine Oscar-Wette. Wir gingen mit einigem Ehrgeiz daran. Allerdings geschah es oft genug, dass ein Freund die höchste Trefferquote erzielte, der keinen einzigen der Kandidaten gesehen hatte. Eventuell lässt sich daraus ja eine Lehre für die Gegenwart ziehen. Ich komme darauf zurück. Aber erst möchte ich Ihnen eine Statistik vorstellen, die ganz bestimmt nicht hilft, die Ergebnisse der kommenden Nacht vorherzusagen.
Sie bezieht sich auf eine Zeit, in der sich Hollywood ebenfalls in einer Zeit der Krisen und Umbrüche befand. Diese spiegelten sich indirekt in der Liste der Filme wider, die zwischen 1955 und 1970 in der Kategorie „Best Picture“ ausgezeichnet wurden. Acht dieser 15 Filme haben Entscheidendes mit „Der Brutalist“ gemeinsam: Sie wurden mit einer Ouvertüre, einer „Intermission“ und gegebenenfalls einer Abschlussmusik aufgeführt. Auf Brady Corbets treffliche Idee des 15minütigen Countdowns kam seinerzeit jedoch niemand.
Damals nannte man diese Vorführpraxis „Roadshow“. Der englischsprachige Wikipedia-Eintrag dazu ist sehr informativ: https://en.wikipedia.org/wiki/Roadshow_theatrical_release. Diese Präsentationsform stellte etwas Großes, Gewichtiges in Aussicht. (Gegen Überlänge war auch damals kein Kraut gewachsen; immerhin galt es, das Fernsehen zu übertrumpfen.) Sie verlieh den Filmen Prestige. Nicht von ungefähr ahmte sie den Theater- bzw. Opernbesuch nach (mitunter konnte man auch Programmhefte erwerben). Ihr eignete eine gewisse Exklusivität – die Kinokarten waren teurer, man musste die Plätze im voraus reservieren -, die gleichsam massenweise erreichbar war.
Die Serie der Best-Picture-Gewinner ging 1956 mit dem Spektakel „In 80 Tagen um die Welt“ los und hörte 1970 mit „Patton“ auf. Die Pause kündigte ein episches Kinoerlebnis an. Das traf für „Die Brücke am Kwai“, „Ben-Hur“ und „Lawrence von Arabien“ allemal zu. Aber auch die Musicals „West Side Story“, „My Fair Lady“ und „Meine Lieder, meine Träume“ (The Sound of Music) erhielten dadurch den langen Atem zurück, den sie bereits auf der Bühne gehabt hatten. Das war ein Erfolgsrezept, sämtliche Titel machten Kasse, „The Sound of Music“ stellte gar in den USA den Rekord von „Vom Winde verweht“ ein und war der Box-Office-Champion, bevor „Der Pate“ ein neues Blockbuster-System etablierte. Diese „Best Pictures“ waren nicht unbedingt die besten Filme des Jahres, aber sie strahlten eine besondere Aura aus. Damit wären wir wieder bei der Spekulation des Anfangs: Die Qualität ist nur ein Faktor unter vielen.
Die Pause hatte durchaus ihre Tücken. Das Publikum wurde zwischendurch in die Wirklichkeit zurück versetzt, was man sich im Theater gern gefallen ließ, weil man es da ohnehin mit einer erkennbar anderen Art von Realitätsillusion zu tun hatte. Das Aufwachen aus den Leinwandträumen barg hingegen seine Risiken.In der Zwischenzeit konnten dem Publikum Zweifel kommen oder sich die bange Frage stellen, ob die zweite Hälfte wohl das Niveau der ersten halten würde. „Lawrence von Arabien“ arbeitet mit dieser Entzauberung, sowohl kreativ wie inhaltlich: Lawrence ist ein anderer geworden, sein Elan wird zusehends erlöschen. Ansonsten galt: Nicht nachlassen.
Der damalige Verleihchef von 20th Century Fox in Deutschland und Österreich, war sich des Pausenproblems 1966 sehr wohl bewusst, weshalb er Regisseur Robert Wise für „Meine Lieder, meine Träume“ eine reichlich radikale Lösung vorschlug. Die erste Hälfte sei so herrlich und herzig, man höre so viele schöne Lieder und sähe so viele schöne österreichische Landschaften – ob man da nicht einfach auf den Schlussteil verzichten könne? In dem tauchten schließlich die garstigen Nazis auf und verdarben den Spaß gehörig. Der dreiste Verleihchef trug übrigens einen Namen, der so zackig war, dass kein Drehbuchautor gewagt hätte, ihn zu erfinden: Wolf von Wolf. Von dieser Idee wollte Wise natürlich nichts hören. In Deutschland und Österreich lief „The Sound of Music“ dann in der Tat ziemlich schlecht.
Das generelle Problem existiert fort. Im Zwischenakt geschieht etwas mit dem Publikum, auf das der Film keinen Einfluss hat. Es könnte abtrünig werden. In der Regel jedoch bricht die Pause den Pakt mit dem Film nicht. Indes scheint ein gewisser Konsens zu herrschen, dass die zweiten Hälften eher enttäuschend sind. Auch „Der Brutalist“ traf diese Kritik ja zuweilen. Die Produzenten von „Wicked“, denen ursprünglich wohl einmal eine moderne Roadshow-Präsentation vorgeschwebt hatte, sahen das voraus und teilten das Musical vorsichtshalber in zwei Teile auf. Auch in dieser Hinsicht ist „Der Brutalist“ die heroisch ehrgeizige Ausnahme. Aber das müssen heute Nacht weder schlechte noch gute Auguren sein.
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