Lautloses Echo

Francois Truffaut sprach gern vom "großen Geheimnis", wenn er über Regisseure schrieb, die ihr Handwerk noch in der Stummfilmära gelernt hatten und seitdem nie vergaßen, wie es ist, eine Geschichte rein visuell zu erzählen. In »Shen nu« (The Godess/ Die Göttliche), dem diesjährige Stummfilm im Programm der Berlinale Classics, kommt man diesem Geheimnis gleich in den ersten Bildern auf die Spur.

Das Regiedebüt des gerade einmal 27jährigen Wu Yonggang (heute sowie am 22. und 23. zu sehen) beginnt mit der Totalen eines Sonnenuntergangs über den Dächern der Stadt. Ein Strommast stellt klar, dass die Geschichte der "Göttlichen" in der Gegenwart spielt. Dem Regisseur genügen drei Einstellungen, um die Lebensumstände der Heldin zu etablieren: zuerst ist ein Stillleben von Kosmetikprodukten zu sehen, das in die Halbnahe zweier an einer Wand hängender Kleider überblendet wird, auf die eine Nahaufnahme überblendet wird, die Kindernahrung und Spielzeug zeigt. Es wird Zeit für die Heldin, denn jeden Abend um neun muss sie ihren kleinen Sohn allein lassen, um anzuschaffen. Behände macht sie sich zurecht, leichtfüßig schlüpft sie in das enge Abendkleid, richtet sich mit flinken Fingern die Haare. Sodann schlüpft sie auf der Straße in die Rolle der Prostituierten, deren vorgebliche Verruchtheit sie mit knappen, abschätzigen Blicken demonstriert.

Wiederum das Porträt einer anstößigen Frau, wiederum die Studie einer engherzigen Gesellschaft, in der die üble Nachrede floriert. Zuerst hat die Heldin nur den emphatischen Kamerastil auf ihrer Seite. Die Montage assoziiert sie, in Doppelbelichtungen und Schnittfolgen, mit der Dynamik des nächtlichen Großstadtlebens. Das zeitgenössische Publikum wird den Schauplatz augenblicklich als Shanghai identifiziert haben. Dabei verschmelzen Studioszenen und stock shots der Stadt nie vollends, den Neonreklamen und den glitzernden Häuserspitzen eignet eine gewisse Abstraktion. Sie stellen keine Verlockung dar, sondern sind das Ambiente eines tristen Arbeitsalltags. Die eigentliche Sexarbeit verschwindet in Abblenden, die natürlich der Zensur geschuldet sind, aber auch eine Unausweichlichkeit besiegeln. Wu Yonggang findet einfallsreich immer neue visuelle Chiffren, um die Monotonie dieses Lebens zu unterstreichen.

»Shen nu« ist 1934 entstanden – der Tonfilm setzte sich in einigen Kinematographien mit erheblicher Verspätung durch. Das China Film Archive hat den Klassiker zum 90. Todestag der Hauptdarstellerin Ruan Ligyu restauriert (quasi als Abspann laufen Stichproben-Vergleiche zwischen der verschlissenen Nitrokopie und dem Digitalisat) und Zou Ye dazu eine helle, ruhige Partitur komponiert, die erst allmählich einen aufgewühlten Duktus entwickelt. Ruan Linyus Körperspiel ist agil, ihre Mimik wendig: eine Kaskade wechselnder Emotionen. Es liegt etwas Ungeschütztes, aber auch Pragmatisches darin, wie sie physisch und psychologisch in ihre Rolle hineinfindet. Das Spiel dieser Stummfilmdiva ist überaus modern;ihm eignet nichts Statuarisches. Ehrfürchtig, fast ein wenig eingeschüchtert, weicht die Kamera vor ihren Schritten zurück und lässt sich zugleich ins Schlepptau nehmen von deren Entschlossenheit. Ihre Verzweiflung und Machtlosigkeit setzt die namenlose Heldin in Wut und Empörung um: Man spürt augenblicklich, dass die Unterwürfigkeit für sie kein selbstverständlicher Zustand ist. Immer verzweifelter begleitet die Kamera ihren Überlebenskampf, mit Reißschwenks und Aufsichten, in denen ihre Existenz aus den Fugen gerät.

Auf der Viennale 2005 konnte ich die Kunst dieser Darstellerin entdecken, die in ihren Filmen sacht, aber couragiert das Rollenbild der opferwilligen Frau unterlief. Beim täglichen Überlebenskampf sind ihre Heldinnen auf sich allein gestellt, kaum je geraten sie an einen Mann, auf den sie sich verlassen könnten. In »Xiao Wanyi« (Little Toys, 1933) verkörpert sie eine Frau aus der Provinz, die in der Stadt zur Kleinunternehmerin wird, in »Xin Nuxing« (New Women, 1934) spielt sie eine Intellektuelle, die auf den Strich gehen muss, um Medizin für ihr Kind zu kaufen. Den Konflikt zwischen Pflicht und Sehnsucht trägt sie auf der Leinwand unaufhörlich aus. »Shen nu« ist einer der ersten Filme überhaupt, der die Prostitution nicht moralisch verurteilt, sondern als Indiz einer sozialen Misere deutet.

Die fatale Rolle, die Nachrede und Intoleranz in ihm spielen sowie die zahlreichen Parallelen zur Biografie seiner Hauptdarstellerin lassen das Melodram als Schlüsselfilm erscheinen. Ihr Vater starb, als Ruan Lingyu fünf war, fortan wechselte die Mutter unablässig Beruf und Wohnort, um sich und ihre Tochter durchzubringen; wie ihre Leinwandfigur hatte auch die Schauspielerin unter einem Lebensgefährten zu leiden, der dem Glücksspiel verfallen war. Die Ergriffenheit ihres Spiels verführte Zuschauer und Kritiker gleichermaßen, darin ein Seelenecho zu entdecken und stets Rückschlüsse auf Selbsterlebtes zu ziehen. In einer Szene seines Biopic »Yuen Ling-yuk« (The Actress/Center Stage, 1991) zeigt Stanley Kwan, wie Ruan Lingyu, gespielt von Maggie Cheung, den Schmerz einer Rolle das Ende des Takes überdauern lässt: Sie liefert sich Emotionen aus, die sich nicht mit einem bloßen "Cut" abstellen lassen.

Ruan Lingyu wurde im Alter von 16 Jahren wurde von Richard Poh entdeckt, der später zu einem ihrer wichtigsten Regisseure wurde. 29 Filme drehte sie in den folgenden neun Jahren, bis sie, vier Monate nach der Premiere von »Shen nu«, Selbstmord beging; in den Morgenstunden des 8. März 1935, des Internationalen Tages der Frau. Kwans Film schildert, wie sie daran zu Grunde geht, dass sich in der öffentlichen Wahrnehmung ihr Leben und ihre Kunst verwoben hatten. Die Verleumdungskampagne, die sie in den Tod trieb - ihr wurde unterstellt, gleichzeitig Verhältnisse mit einem bankrotten Spieler und einem reichen Teehändler zu unterhalten -, interpretiert er als Revanche der Boulevardpresse, die in ihrem letzten Film »Xin Nuxing« scharf attackiert worden war.

Kwan war damals Gast der Viennale und entpuppte sich als ein enorm zugänglicher, also wahnsinnig sympathischer Gesprächspartner. Er weckte meine Neugier auf das Shanghaier Kino der 1930er Jahre, über das ich fünf Jahre später in dieser Zeitschrift schreiben konnte, als die Stadt die Weltausstellung ausrichtete. Tatsächlich stellt »Center Stage« (der mittlerweile zum Glück wieder in seiner ursprünglichen Zweieinhalb-Stunden-Fassung erhältlich ist) den vielfachen Versuch einer Gegengeschichtsschreibung dar, denn er bemüht sich nachdrücklich um eine Rehabilitation der dortigen, vorrevolutionären Filmproduktion, die in der Volksrepublik verschmäht und verschwiegen worden war. Bis die Hafenstadt 1937 in die Hände der Japaner fiel, war sie das blühende Zentrum der chinesischen Filmindustrie. Es herrschte ein liberales, kosmopolitisches Klima, in dem Filme entstehen konnten, die soziale Probleme wie Arbeitslosigkeit, Kriminalität und eben Prostitution offen als Resultat der Klassengegensätze anprangerten. im restlichen China aber kaum Verbreitung fanden. Kwan legte mir vor allem den Regisseur Sun Yu nahe, der in New York Film studierte und beispielhaft eine Erzählhaltung verkörperte, die in der traditionellen Kultur verwurzelt ist und sich zugleich öffnet für fremde Einflüsse. 

"Sie trägt stets eine Maske", war die entscheidende Regieanweisung, die Kwan seiner Hauptdarstellerin gab. Am Vorabend ihres Selbstmords, so sieht man es in seinem Film, feiert die Stummfilmdiva zusammen mit Produzenten und Regisseuren die bevorstehende Einführung des Tonfilms. "Das nächste Mal werde ich auf der Leinwand sprechen", frohlockt sie. Welch traurig unerfüllter Traum des Kinos.

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