Die Weisheit des Fleisches

Der Gedanke, dass ihr Mann gleich fort sein wird, bereitet Okane nachgerade körperliche Schmerzen. Sie taumelt verzweifelt durchs Haus, hastet von Raum zu Raum, lehnt sich an die Wände, die ihr keinen Halt bieten, krallt sich schluchzend an ihnen fest. Um jeden Preis will Okane verhindern, dass Seisaku wieder in den Krieg zieht.

Okanes Gier nach dem Geliebten wird in »Seisaku no Tsuma« (Seisakus Frau), der heute, morgen und am 22. 2. den Berlinale Classics ein melodramatisches, schwarzweißes Glanzlicht aufsetzt, in einer Gewalttat kulminieren, die das entsetzliche Liebesattentat von »Im Reich der Sinne« um ein Jahrzehnt vorwegnimmt. Yasuzô Masumura ist ein Filmemacher der Impulse, den die Maßlosigkeit der Leidenschaften, ihre grenzüberschreitende Kraft unerschöpflich faszinieren. Sklave exzessiver Gefühle zu sein, verleiht seinen Charakteren gleichzeitig die Freiheit, sich aus den moralischen Verschnürungen ihrer Zeit zu lösen. Ihren sittlichen Wert bemisst der Japaner allein an ihrer Ursprünglichkeit und Aufrichtigkeit.

Okane und Seisuka sind ein unmögliches Paar. Sie wird von der Dorfgemeinschaft geächtet, eine anstößige Frau, die die Konkubine eines reichen Mannes war, nach dessen Tod sie ins Heimatdorf der Mutter zurückkehrte. Der junge, ausgezeichnete Rekrut hingegen dient dem Dorf als Vorbild; ein zunächst unerträglicher Streber, der seinen ersparten Sold in eine Glocke gesteckt hat, um seine Mitbewohner frühmorgens zu Tugend und Arbeitsamkeit anzutreiben. Als Okanes Mutter im Sterben liegt, ist er freilich der einzige, der ärztliche Hilfe holt. Das Verliebtsein befähigt ihn zu Solidarität. Fortan begegnet die Gemeinschaft ihnen mit Argwohn und geiler Missgunst: Wie kann der Aufrechte nur dieser ruchlosen Verführerin verfallen?

Bei allem Furor ist »Seisakus Frau« ein schöner, versunkener Film über die Einsamkeit der Außenseiter. Masumura stellt indes eine tiefe, reiche Intimität her zwischen den obsessiv Liebenden. Anfangs sind sie noch Gegenspieler, das Bett ein Kampfplatz ihrer Lust und seiner Sittenstrenge. Es ist ihre bald nicht mehr tastende, sondern fordernde Zärtlichkeit, die ihren Pakt besiegelt. Kühn testet er die Grenzen des Darstellbaren aus. Und stets ist es die Weisheit des Fleisches, die bei Masumura Lernprozesse vorantreibt: Als Seisaku nach ihrer Bluttat voller Rachsucht zurückkehrt, ist er erschüttert, als er bemerkt, wie abgemagert die Geliebte ist.

Masumura gilt als ein Wegbereiter der japanischen Neuen Welle, aber eigentlich ist er ihr ebenbürtiger Zeitgenosse. Schon nach Kriegende arbeitete er als Regieassistent und studierte nebenbei Philosophie (sein Abschlussarbeit schrieb er über Kierkegaard), bevor er dank eines Stipendiums ans "Centro Sperimentale" in Rom kam. Dort zählten Antonioni und Visconti zu seinen Lehrern. Er kehrte also mit einem gründlich fremden, skeptischen Blick auf die Gewissheiten des traditionellen Kinos zurück. Nach seiner Rückkehr assistierte er Kenji Mizoguchi bei dessen letzten drei Filmen; mindestens ebenso wichtig war die Lehrzeit bei Kon Ichikawa, dessen meisterliche Bildkomposition er bewunderte. Was mir als eines der großen Rätsel erschient – wie genau die japanischen Meister wussten, wo sie die Kamera im Raum platzieren und was sie vor ihr drapieren sollen – hat er akribisch studiert.

Die frenetische Bewegungslust der Kamera, das expressive Körperspiel in seinem Regiedebüt »Kuchizuke« (1957) nimmt schon den Furor der exaltierten Gangsterfilme vorweg, in denen die jungen Wilden (Oshima, Imamura, Shinoda etc) kurz danach Schlaglichter auf die Zerrissenheit der japanischen Gesellschaft warfen. Auch Masumura begehrte auf gegen das restaurative Klima der 1950er, auch er suchte den Skandal, brach die Tabus aber gleichsam besonnener. Im Gegensatz zu ihnen verbrachte Masumura den Großteil seiner Karriere als Vertragsregisseur bei dem Studio Daiei zu, wo er seine persönliche Vision als Konterbande in Auftragsarbeiten unterbrachte.

Die digitale Restaurierung von »Seisaku« ist eine Wohltat im Vergleich zu meiner miserablen französischen DVD. Auf ihr sind die Bilder flirrend, verschwommen, hier jedoch gewinnen sie ihre ursprüngliche Schärfe zurück. Ich hatte mir die kleine Masumura-Box wohl zu schnell gekauft, unter dem starken Eindruck, den „Seisaku“ 2004 in einem Kino im Quartier Latin hinterließ. Meine Erinnerung trog mich übrigens. Mir standen die Einstellungen der Wege vor Augen, die die Figuren durch die Hügellandschaft, über Straßen und Brücken zurücklegen, welche ich transparent und klar vor Augen hatte. Tatsächlich jedoch ist die Topographie ziemlich unübersichtlich, der Blick wird stets von dichtem Blattwerk verschleiert. Die regelmäßig wiederkehrenden Totalen, die die Landschaft befragen, gewinnen eine eigentümlich geheimnisvolle Evidenz.

Gemeinsam mit dem Drehbuchautor Kaneto Shindô, der parallel eine bemerkenswerte Regiekarriere verfolgte, porträtierte Masumura Frauenfiguren, die in einer feindseligen Gesellschaft ihre soziale Stellung erobern und behaupten müssen. Wie begrenzt ihr Spielraum dafür ist, unterstreicht seine Verwendung des CinemaScope. Er begreift es als ein Format der familiären Hierarchien und sozialen Ausgrenzungen. Rahmen, vertikale Kraftlinien und Schattenzonen machen den Figuren ihren Raum streitig. Er nutzt die breite Leinwand nicht, um diesen zu öffnen, sondern um ihn radikal zu verschließen.

Das Begehren wird bei ihm stets auch kenntlich als eine Ergriffenheit von der einzigartigen Schönheit des Anderen, einer Einzigartigkeit, die ihn nicht nur als Objekt kostbar werden lässt. In Ayako Wakao, die in den 50er Jahren als „Verlobte Japans“ gefeiert wurde, fand er dafür seine ideale Darstellerin. Er verwandelte sie, vergiftete ihren ehemals unkomplizierten Liebreiz. Sie ist keine Muse, sondern eine unverzichtbare Instanz: das visuell-moralische Zentrum seiner großen Filme. Für »Seisaku« erhielt sie 1966 die wichtigsten Schauspielpreise in Japan.

Was mich beim Wiedersehen neben ihrer sublimen Präsenz am stärksten beeindruckt, ist das schonungslose Bild der Gesellschaft, das er zeichnet. Sie ist engherzig und schäbig, nie zuvor habe ich einen so hartnäckigen Film über die üble Nachrede gesehen. Manchmal genügt ihm eine knappe Einstellung, um ihre Doppelmoral zu entlarven. Der historische Hintergrund stachelt die Bigotterie an. »Susakus Frau« ist in der Zeit des russisch-japanischen Krieges (1904-1905) angesiedelt. Der Patriotismus treibt auch in der Provinz böse Blüten. Bei seiner Einberufung wird der Mustersoldat Seisaku frenetisch gefeiert, als er nach einer Verwundung kurzfristig heimkehrt, regen sich erste Zweifel an seiner Vaterlandstreue. Er gehörte zu einem Selbstmordkommando, warum hat er überlebt? Als Okane ihn angreift und schrecklich verwundet, um seine Rückkehr an die Front zu verhindern, wird er als Drückeberger beschimpft. In diesem Klima imperialer Zucht und Hörigkeit herrscht ein obszöner Ehrbegriff. Die Ehre, denkt man, ist unantastbar. Und heute früh entdeckte ich ein Gegengift einen Artikel über die letzte freie Rede im Reichstag 1933, in der Otto Wels, der Vorsitzende der SPD, als einziger die Stimme gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz erhebt. "Freiheit und Leben kann man uns nehmen", sagte er, "die Ehre nicht." Gegen die Demagogie scheint auch im Japan des Jahres 1905 kein Kraut gewachsen. Masumura ist schließlich ein unerschütterlicher Pessimist. Aber Seisaku dankt seiner Frau am Ende für ihre infame Tat, denn ohne sie wäre er ein dummer Mustersoldat geblieben.

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