Träume von hellerem Licht
Heute erhält Caroline Champetier die diesjährige Berlinale Kamera. Als ein Beispiel ihrer Arbeit wird dazu »Les Innocentes« (Agnus Dei – Die Unschuldigen) gezeigt. Ich nehme an, nicht das Festival, sondern die französische Kamerafrau selbst hat diese Wahl getroffen. Sie ist gleichermaßen überraschend wie triftig.
Natürlich ist schwer, ein Werk mit einem Film zu repräsentieren, das inzwischen vier Jahrzehnte umfasst. Caroline Champetier hat mit Godard und Rivette angefangen, dann in Jacques Doillon und Benoit Jacquot anspruchsvolle Komplizen gefunden, hat mit der französischen Nouvelle Nouvelle Vague gearbeitet (Desplechin, Laetitia Masson und vor allem Xavier Beauvois) und eine Vorliebe für Regisseure, die sich weniger leicht in eine Schublade stecken lassen (da denke ich besonders an Leos Carax). Für »Von Menschen und Göttern« von Xavier Beauvois hat sie ihren erstaunlicherweise einzigen César bekommen. Den hätte ich eher erwartet für die heutige Ehrung. Aber berechenbar ist Champetier nicht, was ich während der Arbeit an einer TV-Dokumentation über sie Ende der 1990er oft genug erlebte.
Statt »Von Menschen und Göttern« über fünf Trappistenmöche, die im algerischen Atlasgebirge ermordet wurde, also ein Nonnenfilm. »Les Innocentes« spielt im Dezember 1945 in Polen und handelt von einer Rote-Kreuz-Schwester, die in ein nahegelegenes Kloster gerufen wird. Einige Monate nach der Befreiung durch die Rote Armee stellt sich heraus, dass mehrere Nonnen schwanger sind. Die Mutter Oberin will einen Skandal verhindern, aber die atheistische Krankenschwester lässt sich nicht von ihr einschüchtern und kümmert sich hingebungsvoll um die werdenden Mütter und die Neugeborenen. Ein Kloster in Nordafrika und eines im winterlichen Osteuropa: das bedeutet auch, dass Farben und Licht unterchiedliche Temperaturen haben.
»Les Innocentes« ist Champetiers dritte Zusammenarbeit mit der Regisseurin Anne Fontaine. Keiner der Filme gleicht dem anderen, aber alle drei ähneln sich. An diesem Drehbuch reizte die Kamerafrau vor allem die Herausforderung, dass mehr als die Hälfte der Szenen nachts spielt. Sie konnte das Licht also nicht einfach vorfinden und dann verstärken, sondern musste es hervorbringen. Außen stand ihr meist nur das Mondlicht zu Gebot, in den Interieurs entsteht durch Öllampen und Kerzen sachte Wärme. Nachts ist es nie ganz dunkel und tagsüber wird es nie ganz hell. Auf den ersten Blick wirkt die Lichtsetzung des Films erst einmal realistisch, wenngleich nicht naturalistisch. An diesem Ort, der dem Glauben gewidmet ist, gibt es kein himmlisches Licht.
Am selben Tag, an dem ich »Les Innocentes« wiedersah, ging ich abends in die Staatsoper zur Premiere von Romeo Castellucis Inszenierung von Richard Strauss' »Daphne«. Wie bei seiner Inszenierung von »Salomé« (siehe "Nach zehn Minuten braucht es Seele" vom 21. 4. letzten Jahres) ist der Regisseur auch diesmal sein eigener Szenenbildner. Das antike Griechenland der Vorlage imaginiert er als eine Schneelandschaft. Auch dies ein Drama widerständiger Herzen im Winter. In dem eindrucksvollen, fast tyrannischen Szenenbild kommt jeder Farbe eine besondere Bedeutung zu, mal als ein leichtes Glimmen im Hintergrund, mal lodert ein Sonnenaufgang. Das Licht ist ein zentrales Motiv im Libretto, darin ist von einem "gesegneten Schein" die Rede und es werden "Träume von einem helleren Licht" beschworen. Castelluccis Inszenierung ringt mit der Kälte, die sie sich selbst auferlegt hat.
Auch Champetier trägt einen solchen Kampf aus, auch bei ihr bleiben die Farbakzente zunächst dezent. Sie hat im Bildraum eher Zonen ausgeleuchtet, setzt nur vereinzelt pointierte Effekte. Ein Strahl des Kerzenlichts berührt plötzlich sanft die Stirn der Krankenschwester. Der Film denunziert das Kloster nicht als ein weltfernes, feindseliges Ambiente. Natürlich, das ist bei diesem Schauplatz im Kino selten anders, herrscht ein Klima der Unterdrückung. Die weltlichen Gefühle, die aufbrechen, dürfen hier keinen Platz haben. Aber allmählich brechen die Hierarchien auf und verliert die Oberin zusehends von ihrer Macht. Mit der klösterlichen Ordnung und dem Humanismus der Krankenschwester stehen sich gegensätzliche Prinzipien gegenüber, die wechselseitigen Respekt entwickeln sollen. Champetier ist seit jeher eine unverbrüchlich neugierige Begleiterin der Figuren (man denke nur an die langen Fahrten, die sich in »Das einsame Mädchen« an Virgine Ledoyens Fersen heften); sie filmt Porträts in Bewegung. Sie will ihre Lebenssphären und deren Rhythmus erkunden. Der Schwenk, der eingangs zwischen den Reihen der Nonnen hin und her streift, ist eine schöne, wachsame Einstimmung in ihre Welt. Großaufnahmen von Gesichtern braucht es wenig, um in »Les Innocentes« Nähe herzustellen; stets legt sich dann ein Filter vor die Gesichter, der ihnen sanfte Konturen verleiht. Champetier, die früher die Figuren chronisch eng kadrierte, lässt zunehmend Weite zu. Perspektiven spannen sich auf.
Währendddessen nimmt die Leuchtkraft der Kerzen und Lampen unmerklich zu. Es muss größere Klarheit herrschen, auch spirituell. Im Epilog des Films dringen zum ersten Mal Sonnenstrahlen in den Kreuzgang und den Hof des Klosters ein. Es ist ein Ort des Lebens geworden, eines anderen Lebens, das sich geöffnet hat. Das klingt als Katharsis erst einmal reichlich simpel, ist visuell aber bezwinend. Es kommt der Idee eines "gesegneten Scheins" sehr nahe. Es ist das Licht einer Reformation.
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