Nicht absolut genug
In der letzten Woche konnte in Zürich das Schlimmste gerade noch verhindert werden. Dem Feuilleton der NZZ war am Samstag zu entnehmen, dass das Tonhallenorchster kurzfristig eine Aufführung von Sergei Prokefjews Kantate "Alexander Newski" absagte, die aus dessen Partitur zu Eisensteins gleichnamigem Film hervorgegangen ist.
"Beinahe hätte man den Falschen gefeiert" ist der Artikel von Christian Wildhagen überschrieben (https://www.nzz.ch/feuilleton/tonhalle-zuerich-omer-meir-wellber-ld.1721151). Er führt aus, welcher Gefahr das Bildungsbürgertum von der Limmat im letzten Moment entronnen ist: Der Film und die Kantate ließen sich leicht zu Propagandazwecken missbrauchen; nun bliebe dem Publikum die Hultigung an einen russischen Nationalhelden erspart. Zuerst hatten Mitglieder der Singakademie ihre Bedenken gegenüber dem Stück angemeldet. Gastdirigent Omer Meir Welliber fand einen Ersatz, der anscheinend eine geschickte, ja ingeniöse Lösung war.
Dabei stand der Film von 1938 nicht zur Debatte. Ihn würde man derzeit bestimmt nicht vorführen. Die Propaganda gehört zu seiner DNS. Er entstand als Auftragsarbeit Stalins und stellte für den Regisseur die Möglichkeit dar, sich in den Augen des Regimes zu rehabilitieren. Sein Zweck bestand freilich nicht nur in der Verherrlichung Newskis (und mit ihm Stalins), seine Bildsprache weist ihn explizit als Propaganda gegen Nazideutschland aus. Seine filmhistorische Bedeutung liegt indes eher in seiner innovativen Verwendung der Musik. Prokofjew untermalt, bestärkt nicht einfach die Bilder, Eisenstein hat einige Sequenzen unkittelbar auf sie hin geschnitten. Das war seinerzeit bahnbrechend. Mithin könnte man es hier mit einem vergleichbaren Fall für die Löschkultur zu tun haben wie bei Griffith' »The Birth of a Nation«: ein Meilenstein der Filmgeschichte, der aus heutiger Sicht ideologisch nicht mehr haltbar scheint.
Trotz meiner Vorbehalte gegenüber Eisensteins Montagekino wäre ich durchaus bereit, diesem Film eine gewisse Vieldeutigkeit zu unterstellen. Er ließe sich heute eventuell auch ins Gegenteil hin interpretieren. Immerhin verteidigt Newskis das Land gegen dessen Besatzer, die Mongolen. Mit dem Deutschen Orden tritt noch eine weitere Invasionsmacht auf den Plan. Die abzuwehrende Bedrohung Russlands kommt, anders als die NZZ behauptet, mitnichten nur aus dem Westen. Aber der Film stand in Zürich ja nicht auf dem Prüfstein. Dort mochte man die Kantate, die Prokefjew aus seiner Partitur entwickelte, jedoch auch nicht als absolute Musik betrachten. Ihr haftet weiterhin ihr ursprünglicher Verwendungszweck an. Nun stehen russische Komponisten ja seit dem 24. Februar letzten Jahres international wenn nicht unter Generalverdacht, so doch in den Konzertsälen unter strenger Beobachtung. In der Schweiz, wo man gern vorsichtig und korrekt ist, mag das noch einmal besonders gelten. Das Land hält ja große Stücke auf die eigene Neutralität. Warnungen vor der "Wilhelm Tell"-Ouvertüre sind nicht zu erwarten.
Als Bewunderer Prokofjews, der insbesondere dessen "Romeo und Julia"-Ballett nach wie vor gern und häufig hört (zugegeben, das ist unverfänglich, weil beinahe ein Projekt innereuropäischer Aneignung), war ich zunächst empört über die Zürcher Absetzung und ihr feuilletonistisches Sekundieren. Diese Entrüstung war bestimmt etwas voreilig; allerdings kommen mir Vokabeln wie "Beinhahefehlgriff" doch unnötig eifernd vor. Gleichviel, der salomonische Dirigent nahm Prokofjews 3. Klavierkonzert nicht aus dem Programm. Möglicherweise hat in der Tonhalle nicht nur das ruhige Gewissen, sondern auch die Kunst gesiegt.
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