Man schießt nicht auf Selbstmörder
In der letzten Woche beschwerte sich eine Bekannte, Adèle Haenel sei im vorletzten Eintrag aber sträflich zu kurz kommen. Dem hatte ich wenig entgegenzusetzen außer der lauen Entschuldigung, meine Blogs würden ohnehin meist zu lang. Nehmen Sie das ruhig mal als eine Warnung für heute.
Tatsächlich konnte ich der enttäuschten Kollegin nur zustimmen: Es lohnt sich allemal, die Geschichte der Adèle H. zu erzählen. Sie ist faszinierend, imponierend, auch verstörend. Insgeheim scheute ich beim Großreinemachen wohl davor zurück, mich in dies Labyrinth der klaren Worte und Widersprüche vorzuwagen. Dabei hätte ich sie mir zum Vorbild nehmen können, denn momentan redet sich die französische Schauspielerin um Kopf und Kragen.
Sie hat allerdings auch ein Patent auf Courage und Angriffslust. Die Dankesrede für ihren ersten César, den 2014 sie als Beste Nebendarstellerin in „Die unerschütterliche Liebe der Suzanne“ erhielt, münzte sie um in ihr lesbisches Coming out. 2019 beschuldigte sie den Filmemacher Christophe Ruggia, sie als minderjährige Darstellerin sexuell bedrängt zu haben. Zwei Jahre nach Anbruch der #MeToo-Ära ging diese Machtprobe, die davor zweifellos unter anderen Vorzeichen ausgetragen worden wäre, zu Ungunsten des Regisseurs aus. Im Jahr darauf machte sich Haenel erneut zur Galionsfigur der Bewegung, als sie empört die César-Verleihung verließ, da sich der Sieg von Roman Polanskis „Intrige“ abzeichnete. Das mag eine ausgeklügelte Inszenierung gewesen sein, deren Beweggrund aber gewiss nicht darin lag, dass sie, die Regisseurin Céline Sciamma sowie acht weitere für »Porträt einer jungen Frau in Flammen« Nominierte leer ausgingen. Diese Unterstellung würde verkennen, wie unbedingt Haenels Engagement für eine Sache ist. Sie erkennt eine Steilvorlage, wenn sie sich ihr bietet.
Damals wollte sie die Maschine ins Stocken bringen. Jetzt gibt sie, nach rund zwei Dutzend Filmen, dem Kino den Laufpass. Sie nimmt sich keine Auszeit, sondern vollzieht den radikalen Bruch mit einer Branche, die sie für patriarchal, reaktionär sexistisch, rassistisch und ökologisch verantwortungslos hält. Haenel will nicht länger einem Milieu angehören, das sexuelle Aggressoren schützt. Bekannt gab sie ihren Schritt in einem Brief an die Zeitschrift "Télérama". Die Redaktion hatte ursprünglich von ihr wissen wollen, weshalb sie seit vier Jahren keinen Film mehr gedreht habe. In der Tat liegt ihre letzte Rolle (in „Porträt einer jungen Frau in Flammen“) schon so lang zurück. Ihre Abwesenheit war einigermaßen unbemerkt geblieben, zumal sie mit Sciammas Film lange präsent war, denn er ging um die Welt. Überdies haben sich während der Pandemie viele Projekte verzögert und hat sich unsere Zeitrechnung ohnehin durch sie verändert. Liegt der Eklat bei den César wirklich schon drei Jahre zurück?
Der Brief schlug im Mai wie eine Bombe ein. Während die Filmwelt sich in Cannes traf, tauchte Haenel in den Medien als solidarische, aufmerksame Verbündete von Streikenden auf und nahm an Demos gegen Macrons Rentenreform teil. Fürwahr, sie meintees wirklich ernst, staunte die französische Öffentlichkeit. Dabei kam ihre Verlautbarung keineswegs aus heiterem Himmel. Es hatte Vorzeichen gegeben, etwa in Interviews, die sie im Vorjahr einigen europäischen Medien gegeben hatte. Von dergleichen nimmt man im selbstgenügsamen Frankreich leider chronisch wenig Notiz. Kurioserweise wurde ihr aufsehenerregendes Gespräch mit der österreichischen Zeitschrift "FAQ" auf deren Website auch in französischer Übersetzung publiziert– dort konnten heimische Kommentatoren gleichsam postum erfahren, was sie zuvor ignoriert hatten. Die Einladung, Mitglied der amerikanischen Filmakademie zu werden, hatte Haenel beispielsweise in der Zwischenzeit – anders als Sciamma – ausgeschlagen; ebenso wie das Angebot einer Agentur, sie in Hollywood zu vertreten. Auch eine Zusammenarbeit mit Bruno Dumont lehnte sie unterdessen ab - anscheinend, weil der Regisseur all das verkörpert, was sie verdorben findet im französischen Kino.
Trotz ihrer entschiedenen Worte herrscht in manchen Punkten ihres Briefpamphlets beträchtliche Unklarheit. Haenel spricht von einem "Streik", den sie "politisieren" wolle. Ist ein Arbeitskampf dies nicht schon per definitionem und kraft Auswirkung? Zudem ist ein Streik befristet. Er mag zur Aufkündigung bisheriger Tarifverträge führen, an einem endgültigen Bruch aber kann keiner der Parteien gelegen sein. Versteht Haenel ihren Ausstand gleichwohl als ein Druckmittel? Welchem Zweck sollte er dienen, da sie das Tischtuch zwischen sich und der Branche doch endgültig zerrissen hat? Endgültig bedeutet jedoch möglicherweise nicht unwiderruflich: Haenel lässt sich die Hintertür offen, gegebenenfalls noch mit aktivistischen Filmemacherinnen wie Sciamma zu arbeiten. Tatsächlich sprach sie vor zwei Jahren den Off-Kommentar zu einem Dokumentarfilm nach Didier Eribons »Rückkehr nach Reims«.
Der Brief hat es in sich. Sich mit den darin skizzierten Verschwörungstheorien – Haenel sieht eine phallokratische Konspiration zwischen Mächtigen und Medien am Werk – auseinanderzusetzen, scheint mir vergeudete Mühe. Ihre Diktion indes verdient genauere Aufmerksamkeit: Sie verlässt das Kino nicht, sondern streicht dessen Angehörige aus ihrem Leben. Im Original klingt das noch eine Spur hochmütiger: "Je vous annule de mon monde,". Das kann man mit „Ich bereinige meine Welt von euch“ übersetzen, was auch nicht viel schiefer klingt als im Französischen. Damit ist jedenfalls eine Maximalposition abgesteckt, die keinen Dialog sucht oder ermöglichen will. Haenel hinterlässt einen Schandfleck auf allen, die sich nicht vom System lossagen: als dessen Komplizen. So viel Selbstgerechtigkeit kann ich schwer ertragen.
Die Reaktionen auf den Brief waren heftig bzw. verschwiegen. Was soll man sagen über oder zu Jemanden, der sich als Märtyrer sieht? Das Spektrum reicht von Ratlosigkeit über Entsetzen bis zur Sorge um Haenels Gemütszustand; zur Zustimmung komme ich gleich. Der Großteil der Filmkünstler sowie Vertreter von Berufsverbänden und Initiativen, die "Le Monde" nach der Veröffentlichung befragte, wollte nicht mit Namen genannt werden. Man ist es wohl nicht gewohnt, dass Seinesgleichen sich als Ayatollah oder Trotzkist gebärdet. "Man schießt nicht auf eine Selbstmörderin" lautete eine anonyme Antwort. Argwohn wurde laut, sie habe sich – wie schon bei den César 2020 - von ihrer ehemaligen Lebensgefährtin Sciamma instrumentalisieren lassen. Das schließe ich entschieden aus. Erstens traue ich der Regisseurin solchen Zynismus nicht zu und zweitens ist Haenel alles andere als Eine, die sich willenlos führen lässt. Davon kann Quentin Dupieux ein Lied singen, der ihre Rolle in »Monsieur Killerstyle« umschreiben musste, weil sie nicht ihren Überzeugungen entsprach.
Während etablierte Künstler auf Abstand gingen, waren es vor allem junge Regisseurinnen, die sich auf Haenels Seite schlugen. Dass sie dies offen taten, verlangte gewiss mehr als nur Gratismut. Für das Filmgeschäft scheint Haenel erst einmal verbrannt. Die Leidenschaftlichkeit, die sie als Schauspielerin auszeichnet, hat sie zu einem Extrem geführt, von dem es wahrscheinlich kein Zurück mehr gibt. Mich schmerzt, dass ein so fragiles wie robustes Talent mit 34 Jahren Schluss machen will. Und die Berühmtheit, die sie in die Waagschale wirft, ist keine unerschöpfliche Ressource. Ihre Stimme findet derzeit ein so großes Echo, weil die Öffentlichkeit sie noch als Filmstar betrachtet. Aber das Risiko der eigenen Marginalisierung geht sie womöglich nicht blindlings, sondern offenen Auges ein.
Denn wie es scheint, hat sie ihr Leben und ihre Karriere längst auf eine andere Spur gebracht. Seit gut einem Jahrzehnt arbeitet sie auch im Theater. Da ist weniger Geld im Spiel und dementsprechend auch weniger Macht und deren Missbrauch. Letzteres könnte sich als Irrtum entpuppen. Gleichviel, diese Passion hätte unsereins bemerken können, wenn der eigene Blick nicht so sehr aufs Kino fixierte wäre. Ich musste es erst nachlesen, gerade so wie die ignoranten Kommentatoren in Frankreich. Ein Fall von Hiding in plain sight. Nun geht sie dieser Berufung nicht mehr nur gelegentlich nach, sondern mit einem Elan, der sie auf europaweite Tourneen führt - im vergangenen Jahr beispielsweise in einer Robert Walser-Adaption, die auch in Deutschland gastierte. Es könnte sein, dass die Regisseurin und Choreographin Gisèle Vienne (sie ist auch Marionettenspielerin, aber das würde gerade auf eine kontraproduktive Spur führen) im Theater für sie eine ähnlich Bedeutung gewinnt wie Céline Sciamma im Kino. Das wäre eine Phantasie, die zu Haenel passt: nicht die Schauspielerin dient als Muse, sondern die Regisseurin.
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