Ideen und Personen
Zu den ehernen Klischees der Filmwelt gehört, dass man während des Festivals von Cannes vom Rest der Welt nicht viel mitbekommt. Das ist natürlich erst recht keine Entschuldigung für einen, der nicht in dieser zweiwöchigen Parenthese lebt, weil er daheim geblieben ist. Aber diesmal erreichte mich, dessen Lektüre sich chronisch auf den Kulturteil beschränkt, dank Cannes eine Nachricht aus der wirklichen Welt.
Gestern las ich ein Porträt von Arthur Harari, der heuer als Schauspieler bzw. Drehbuchautor mit zwei Filmen an der Croisette vertreten ist. Zuerst war er in »Le Procès Goldman« zu sehen, dem neuen Film von Cédric Kahn, mit dem die »Quinzaine des Cinéastes« eröffnet wurde. Der Prozess gegen den Linksanarchisten Pierre Goldman spaltete Mitte der 1970er Jahre das politische, öffentliche Frankreich. Dem Halbbruder des Chansonniers Jean-Jacques Goldman wurden mehrere Raubüberfälle und die Ermordung zweier Apotherkerinnen zur Last gelegt. Harari verkörpert im Film dessen Verteridiger Georges Kiejman. Beim Lesen des Artikels erfuhr ich, dass der Anwalt wenige Tage zuvor im Alter von 90 Jahren gestorben ist.
Kiejman war, zumindest außerhalb der Landesgrenzen, eines der bestgeüteten Geheimnisse der französischen Filmgeschichte. Er war stets zugegen, wenn Aufregendes im französischen Nachkriegskino passierte. Niemand kannte sich in der französischen Rechts- und Filmgeschichte gleichermaßen gut aus wie er. Er vertrat die "Cahiers du Cinéma" in mehreren Prozessen, schloß Freundschaft mit deren Redakteuren, namentlich Francois Truffaut, der ihm irgendwann all seine Drehbücher zu lesen gab, weil er auf seine Menschenkenntnis vertraute. Gemeinsam demonstrierten sie 1968 in Cannes. Er war der Rechtsbeistand des Paares Yves Montand/Simone Signoret, durch die er Costa-Gavras kennenlernte, für den er zahlreiche Klagen gegen dessen kontroversen Filme abschmetterte und der seinen Rat auch regelmäßig als Präsident der Cinémathèque Francaise einholte. Carlo Ponti half er, seine Scheidung in der Schweiz einzufädeln, damit er Sophia Loren heiraten konnte. Als Jack Lang 1981 Kulturminister wurde, wollte er die Filmförderung novellieren und ernannte Kiejman zum Vorsitzenden der Kommission. Er leistete richtungsweisende Arbeit. In früheren Gremien wurden vornehmlich finanziell aussichtsreiche Projekte gefördert, er jedoch setzte sich für Qualitätsfilme ein. Kiejman vertrat Jean-Louis Trintignant und dessen geschiedene Frau Nadine als Nebenkläger, nachdem ihre gemeinsame Tochter Marie im August 2003 von dem Sänger Bertrand Cantat getötet wurde. 2009 vertrat er Roman Polanski und half, seine Auslieferung an die USA zu verhindern. Auch Luc Besson und Sophie Marceau gehörten zu seinen Mandanten. Im letzten Jahr verkörperte Kad Merad den Anwalt in der Miniserie »Oussekine«, die von einem seiner medienträchtigsten Prozesse handelt.
Zum ersten Mal nahm ich Kontakt mit Kiejmans Kanzlei auf, als ich einen Artikel über den Nachlass von Chris. Marker recherchierte. Seine Mitarbeiter hatten sieben Erben ausfindig gemacht, die Kiejman überzeugte, den Nachlass an die Cinémathèeque francaise zu geben. Ein paar Jahre später interviewte ich ihn für eine Radiosendung. Die Stunden, die ich in seinem Büro am Boulevard Saint-Germain verbrachte, gehören für mich zu den ganz großen Erinnerungen. Er saß hinter einem einschüchternd großen Schreibttisch, auf dem akkurate Ordnung herrschte und genoß es, auf ein bewegtes Leben und eine illustre Karriere zurückzublicken: mit einem spitzbübischen Funkeln in den Augen. Zu seinen Mandanten gehörten Politiker, Verlagshäuser wie Gallimard, die Erben von Albert Camus und die satirische Zeitschrift „Charlie Hebdo“, die er im Prozess um die Mohammed-Karikaturen vertrat. Er war mit dem Staatsmann Georges Mendès-France befreundet und hatte unter Francois Mitterand drei Ämter als Minister inne. Dieser Mann der Linken hat indes auch Jacques Chirac und Nicolas Sarkozy vor Gericht vertreten. Kiejman selbst trat in einigen Filmen auf (unter anderem für Benoit Jacquot); meist als Anwalt.
1932 als Sohn polnischer Juden in Paris geboren, wuchs er in armen Verhältnissen auf. Sein Vater starb im Konzentrationslager; seine Mutter, die kaum Französisch sprach, arbeitete als Concierge an der Place de la Republique. Um sein Studium zu finanzieren, nahm er eine Stelle in einer Kürschnerwerkstatt an, die dem Vater eines Jugendreundes gehörte, dem späteren Regisseur und Produzenten Claude Berri. Als seine ersten, prägenden Kinoerlebnisse nach der Befreiung von Paris nannte er "La Marseillaise" von Jean Renoir und die Wochenschauen über die Nürnberger Prozesse. Ausschlaggebender war insgeheim wohl »L'affaire Lafarge«, in dem Raymond Rouleau einen charismatischen Strafverteidiger spielt, der eine Gattenmörderin vertritt. Den jungen Georges faszinierte die Theatralität der Gerichtsszenen. Später sollte er als Verteidiger in einer Reihe von Prozessen auftreten, in denen Verbrechen aus Leidenschaft verhandelt wurden.
1953 legte er sein Examen ab und wurde als der wortgewandteste Absolvent seines Jahrgangs ausgezeichnet. Eigentlich interessierte er sich für Straf- und Staatsrecht. Aber zunächst trat er in die Kanzlei eines Anwalts ein, der auf Film- und Urheberrecht spezialisiert war. "Ich fing an, die 'Cahiers du cinéma' zu vertreten, die von Zeit zu Zeit verklagt wurden von Leuten, die sich durch ihre Artikel diffamiert fühlten", erzählte er mir. „Wenn die Zeitschrift dann doch einmal verurteilt wurde, plädierte ich - angesichts ihrer klammen finanziellen Situation – dafür, dass sie möglichst glimpflich davonkamen.“ Zu seinen Klienten gehörte ebenfalls der Zeitungsverleger Daniel Filipacchi, dem die "Cahiers" zeitweilig gehörten. Als es 1969 zu einem heftigen Konflikt zwischen ihm und der Redaktion kam, fungierte Kiejman als Schiedsrichter. Die Verhandlungen liefen darauf hinaus, dass die Redaktion den Titel kaufte. Finanziell unterstützt wurde die Zeitschrift danach von Freunden, darunter Truffaut, Costa-Gavras und Michel Piccoli.
Mit der Nouvelle Vague war er doppelt verbunden: als filmbegeisterter Zuschauer und als Rechtsbeistand der Regisseure. Der Begriff stammte übrigens von Kiejmans damaliger Lebensgefährtin, der Journalistin Francoise Giroud. "Ich verteidige Ideen und Personen"; sagte er. Zu den Ideen zählten neben dem Urheberrecht auch die Meinungsfreiheit. Mitte der 60er Jahre schrieb Kiejman ein entscheidendes Kapitel in der Zensurgeschichte des französischen Kinos mit. Als Jacques Rivette den Roman »Die Nonne« von Denis Diderot verfilmen wollte, regte sich der Widerstand diverser politischer und religiöser Verbände. "Es hatte schon einige Theaterbearbeitungen der Vorlage Diderots gegeben, die ohne Skandal über die Bühne gingen", berichtete er mir. „Aber hier handelte es sich um einen Film, der ein Visa, ein Freigabe-Siegel brauchte. Die Kontrollkommission wollte das verweigern, weil er angeblich die Sitten verdarb. Dabei ist Rivette alles andere als ein Pornograf! Ich fand heraus, dass die Frau von Präsident de Gaulle Einfluss ausgeübt hatte. Sie war von Nonnen erzogen worden. Den Film hatte sie zwar nicht gesehen, meinte aber, er greife die Religion an. Das laizistische Frankreich hingegen kämpfte um die Werte der Aufklärung. Ich schlug dem Festival von Cannes vor, den Film zu zeigen und argumentierte, er habe zwar keine Freigabe für Frankreich, aber das Festival sei ja internationales Territorium. Juristisch war das zwar Humbug, funktionierte als Schachzug aber glänzend." Trotz des Erfolgs, den »Die Nonne« in Cannes feierte, dauerte der Kampf um sie lang. Kiejman konnte der Kontrollkommission zwar formale Fehler nachweisen. Es brauchte aber einige Ministerwechsel, bis der Film endgültig eine Freigabe erhielt.
Dem Vernehmen nach plädierte er vor Gericht wortgewandt und schlagfertig, mit süffisanter Schärfe. In einem Interview mit Cédric Kahn las ich, dass er Goldman und seinen Verteidiger als Antagonisten begriff: zwei Juden, die vom Holocaust geprägt wurden, woraus Kiejman eloquente Kraft schöpfte. "Ein Plädoyer funktioniert wie die Montage eines Films", erklärte Keijman mir damals. "Sie haben eine Reihe von Ereignissen und Szenen, die sie in einer bestimmten Ordnung präsentieren wollen. Das gleiche gilt für einen Strafverteidiger: Er muss eine Geschichte erzählen."
Zu seiner Legende gehörte auch, dass er ein großer Verführer war: ein Charmeur, der es verstand, sich interessant zu machen. Auch hier suchte er die Öffentlichkeit. In zweiter Ehe war er mit der Schauspielerin Marie France-Pisier verheiratet, die Truffaut entdeckt hatte. Sie kennen die vielleicht aus »Das As der Asse« mit Belmondo, aus »Cousin, Cousine«, für den sie ein César erhielt, oder aus »Der Zauberberg«. Er bewunderte sie als eine Partnerin, die ihn durchschaute. "Sie hielt mich für einen alten Don Juan, was ein weiterer Grund war, sich über mich lustig zu machen", erzählte er vergnügt. "Sie war politisch sehr engagiert, trat bei Versammlungen mit Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir auf. Mit ihrem altersschwachen Auto verteilten wir feministische Traktate. Durch sie wurde ich auch der Anwalt der Frauenbewegung. Ich war ein feministischer Macho." Truffaut erwies dieser Beziehung eine augenzwinkernde Hommage, als er Pisier in „Liebe auf der Flucht“ als Anwältin in schmucker Robe auftreten ließ. Wie souverän der Charmeur Kiejman noch im hohen Alter funktionierte, konnte ich selbst miterleben. Nach dem Interview hatte er einen Termin und bat mich, ihn zur nächsten Metrostation zu begleiten. Wir kamen an einem Zeitungskiosk vorbei, dessen Verkäuferin ihm ungefragt die aktuelle Ausgabe von "Le Monde" reichte. "Nehmen Sie auch ein Exemplar!" forderte er mich auf. Ich bin sicher, er musste an diesem Zeitungsstand nie bezahlen.
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