Eine lyrische Realistin
Schwer zu sagen, ob „Tagebuch meiner Kindheit“ nun eine Phase im Werk von Marta Mészàros' Werk abschließt oder ob mit ihm 1982 eine neue beginnt. Gleichviel, der Film, den arte heute Abend in der Reihe „ArteKino Classics“ zeit, stellt ein wichtiges Scharnier dar in dieser spannenden Filmographie.
In der Mediathek des Senders ist der Film noch bis zum Ende des Monats zu sehen. Online sind ebenfalls die Folgefilme „Tagebuch für meine Eltern“ und „Tagebuch für meine Lieben“ abrufbar. Die Klassikerreihe ist ohnehin eine Fundgrube, aber für heute nehme ich sie erst einmal als eine wunderbare Gelegenheit, die ungarische Regisseurin besser kennenzulernen. Allerdings ist die Programminitiative von arte auch Teil einer konzertanten Aktion, ihr Werk weltweit in Erinnerung zu rufen. Es kursierte letzthin durch mehrere Kinematheken und wurde im vergangenen Jahr zudem auf Mubi ausführlich vorgestellt, wozu auf der Website der Plattform exzellente Essays erschienen. Also eine weitere weibliche Handschrift, die es neu zu lesen gilt.
Heute bleibt mir nur die Zeit für eine knappe tour d'horizon, die aber hoffentlich Ihre Neugier weckt. Ihre französische Kollegin Agnès Varda ist für den Einstieg eine prächtige Gewährsfrau, denn ihr fiel einmal auf, wie häufig Márta Mészáros' Heldinnen duschen. Voyeuristisches Kalkül konnte sie auszuschließen. War darin vielmehr eine Symbolik zu erkennen? Nein, entschied sie kurzerhand: Das Wasser auf ihrer Haut tut ihnen einfach gut.
Mészáros' Protagonistinnen setzen sich, intensiv und in jedem Lebensalter, mit ihrem Körper auseinander. Die Kamera sucht zu ihnen eine eminent physische Nähe, die im Einklang steht mit dem Rhythmus ihres Alltags und ihrer Seelen. Gleichwohl wäre es verfehlt, den metaphorischen Gehalt ihrer Filme zu unterschätzen. In der individuellen Geschichte lässt die ungarischen Regisseurin auch die historischen Verwerfungen ihrer Heimat aufscheinen. Der Werdegang ihrer Heldinnen, zumal ihre familiäre Entwurzelung, ist untrennbar mit den Zeitläuften verknüpft. Als Grundimpuls ihrer Arbeit nennt sie selbst die Anatomie der Lüge. Furchtlos griff sie tabuisierte Themen auf, etwa dem 12-Tage-Aufstand von 1956. Das war im Satellitenstaat der Sowjetunion so wenig willkommen wie ihr Ruf, eine feministische Filmemacherin zu sein. Gleichwohl trotzte sie dem System ein stolzes Werk ab, das seit dem Mauerfall ein neues Mandat der Wachsamkeit erfüllt.
Der „Tagebuch“-Zyklus ist eminent autobiographisch grundiert. Aber schon davor kreisen die Filme dieser lyrischen Realistin um den Selbstbehauptungswillen von Frauen, die vor einsamen Entscheidungen stehen. Einen Ausweg eröffnet ab den 1970ern, etwa in „Adoption“ und „Zwei Frauen“, die Begegnung der Generationen. Die Suche nach Zuspruch und Orientierung ist wechselseitig; die jeweilige Mentorin stellt sich nicht weniger existenzielle Fragen als die Jüngere. Die Aufrichtigkeit gegenüber den eigenen Gefühlen ist der schönste, kostbarste Ertrag ihrer Filme. Insofern bildet die „Tagebuch“-Trilogie einen wunderbaren Abschluss: als Chronik eines Selbstwerdens, in der Mészáros' filmisches Alter ego entdeckt, dass die Kunst auf das Leben antwortet.
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