Ein Untoter
Das Glück drängt auf Dauer. Es soll verweilen, so lange es eben geht. Aber nur selten wagt es, Maß an der Unendlichkeit zu nehmen. Ist der Wunsch, die Geliebte solle ewig leben, ein Versprechen oder ein Fluch? Er verstört selbst in einem Vampirfilm. Nun ja, als Vampirfilm ist „Ganja and Hess“ ohnehin gründlich aus der Art geschlagen.
Davon können Sie sich nun selbst überzeugen, denn der Verleih Rapid Eye Movies bringt den verschollenen Klassiker des Black American Cinema zum ersten Mal überhaupt in hiesige Kinos. Ab heute ist Bill Gunns Film in ausgewählten Häusern in Bremen, Hamburg, Kassel, Köln und Köln zu sehen. REM zeigt ihm im Rahmen einer mutig „Zeitlos“ genannten Reihe, in der sechs faszinierende Irrlichter des Weltkinos ihre Premiere oder Wiederaufführung erleben. „Branded to Kill“ von Seijun Suzuki gehört dazu, ebenso wie „Pale Flower“ von Masahiro Shinoda, über den ich im Februar letzten Jahres bereits ausführlich schrieb.
„Ganja and Hess“ west seit fünf Jahrzehnten zwischen Vegessen und Entdechung. Seine Produzenten hatten sich einen schwarzen Vampirfilm erhofft, eine Fortsetzung des verfemten, seinerzeit aber recht lukrativen „Blacula“. Aber es kam dann ganz anders. Gunns Film macht nichts so, wie es sich 1973 (und eigentlich immer noch) gehört. Er gibt dem Publikum keine Exposition an die Hand in der die Charaktere vorgestellt werden und sich die Konflikte anbahnen. Er setzt es vielmehr einfach dem aus, was er erzählen will. Der Film ist ungeniert sprunghaft, nimmt sich alle Freiheiten. Seine Einstellungen klassisch oder gar ausgewogen zu komponieren, ist Gunns geringste Sorge. Ein Film, der seine eigenen Regeln aufstellt? Gewiss, aber nicht einmal die hält er ein. Die erste halbe Stunde ist in Kapitel („Victim“, Survival“) strukturiert, aber danach verliert Gunn das Interesse an diesem Prinzip. „Letting go“ lautet die letzte, programmatische Überschrift. Die Ungehörigkeit hört nicht einmal mit dem Abspann auf. Dessen Titel sind vorüber, aber das Lied, das sie untermalt, dauert noch zwei Minuten. Unerschrocken lässt Gunn dazu ein Schwarzbild laufen, das Alain Resnais bestimmt gefallen hätte.
Ein Horrorfilm ist „Ganja und Hess“ allenfalls für Kinogänger, die es gern gediegen und übersichtlich haben. Der genretypische Schrecken jedenfalls stellt sich partout nicht ein. Eigentlich geht es auch nicht um Vampire (das Wort fällt kein einziges Mal), sondern um die Sucht nach Blut. Der rätselhaft wohlhabende Anthropologe Dr. Hess Green (Duane Jones könnten Sie aus Romeros „Nacht der lebenden Toten“ kennen) forscht über einen uralten afrikanischen Blutkult. Sein Assistent Meda (den der Regisseur selbst spielt) sticht mit einem antiken Dolch auf ihn ein, bevor er Selbstmord begeht. Durch den Dolchstoß hat der Wissenschaftler sich in einen Utoten verwandelt. Er leckt Medas Blut vom Badezimmerboden auf. Als Medas unwissende Witwe Ganja (Marlene Clark, die damals eine viel zu kleine Karriere in Blaxploitation-Filmen hatte) ihn aufsucht, verlieben sie sich ineinander. Sie entdeckt zwar im Tiefkühlschrank die Leiche ihres Mannes, aber das erschüttert den nun geschlossenen Bund nicht. Damit auch sie unsterblich wird, tötet Heess sie - wohl mit dem Dolch, was man aber nicht sieht. Die genrüblichen Bisse in den Hals gibt es in diesem Film nicht, aber er ist auch ohne ziemlich sexy. (Resnais habe ich nicht von ungefähr erwähnt, denn einige der Liebesszenen erinnern in ihrer sublimen Fragmentierung sichtlich an „Hiroshima mon amour“.) Der Anthropologe ermordert zwischendurch zwei Prostituierte und stiehlt Blutkonserven aus einer Arztpraxis. Seine Schülerin soll ihre neue Gabe an einem Gast erproben, der ihr Liebesspiel nicht überlebt, aber für die letzte Szene in viriler Pracht wiederaufersteht.
Alles ist verstörend an und in diesem Film. Um narrative Logik schert er sich nicht, er findet poetische und gar philosophische Antworten auf die Fragen, die man sich beim Sehen stellt. Nie weiß man, welche Stimmung einen in der nächsten Szene erwartet. Auch die unterschiedlichen Off-Erzähler bereiten nicht darauf vor. Der Soundtrack von Sam Waymon bietet ebenfalls nicht viele Anhaltspunkte, er ist ein irrer Wechselbalg aus Gospel, Blues, Soul und Jazz.
Als Genrefilm, der er nicht ist, entwickelt „Ganja and Hess“ seine eigene, bizarre Mythologie. Er fängt an während eines Gottesdienstes und endet mehr oder weniger mit einem: einem weiteren Spielfeld von Rausch und Ekstase. Der Reverend (den der Filmkomponist spielt) hat noch einen Zweitberuf als Hess' Chauffeur und kümmert sich zudem um dessen Pferdezucht. Überhaupt hat der Anthropologe eine ganze Reihe interessanter Dienstboten, beispielsweise einen Butler, den die ziemlich imperial auftretende Ganja nach Strich und Faden herumkommandiert. Ich vermute, allein schon die Zeichnung des Milieus muss das damalige Publikum irritiert haben: eine schwarze Aristokratie, die sich kultiviert und kunstsinnig gibt und unermesslich reich ist. Hess wohnt auf einem majestätischen Anwesen außerhalb von New York, in dessen Parkanlage sich eine Menge Leichen verstecken lassen. Seinen Sohn hat er auf ein Internat in Frankreich geschickt und zu seinen Cocktailparties kommt das gehobene Bildungsbürgertum (angeblich spielen der Schriftsteller William Gaddis und seine Frau zwei der Gäste). Erstaunlich, was die Szenenbildner aus dem knappen Budget (350000 Dollar) herausgeholt haben. Hess' weitläufige Villa birst vor Gemälden, Skulpturen und Artefakten.
Gunns Produzenten war der Film nicht geheuer. Er passte in keine Kategorie; an die kommerzielle Blüte des Blaxploitation-Kinos konnten sie mit dieser bizarren Elegie nicht anschließen. Nach wenigen Tagen zogen sie „Ganja and Hess“ aus den Kinos zurück, ließen ihn umschneiden (dem Vernehmen nach ein ziemliches Massaker) und brachten ihn unter dem Titel „Blood Couple“ neu heraus. Gunn hatte eine ziemlich entmutigende Filmkarriere; seine erste Regiearbeit „Stop“ brachten Warner Brothers 1970 erst gar nicht heraus. Auch das kein Wunder, er ist nicht weniger enigmatisch. In den Tiefen des Internets lässt er sich allerdings auffinden, offenbar von einer altersschwachen VHS kopiert. Als ich „Stop“ gestern gestern Abend sah, verzeichnete er ganze 72 Views. Im Vorspann sieht man, dass die Partnertausch-Eskapade in der Karibik ein X-Rating bekommen hatte.
Gunn fing als Schauspieler an, zunächst am Theater und dann sporadisch vor der Kamera. Zornig autobiografische Romane verfasste er ebenfalls, die vor einigen Jahren in den USA neu aufgelegt wurden. 1970 schrieb er das Drehbuch zu „Der Hausbesitzer“ (Regie: Hal Ashby). In Hollywood avancierte er rasch zur Persona non grata, weil er verlangte, die gleichen Gagen wie weiße Autoren zu erhalten. Für das Buch des Muhammad-Ali-Biopic „Ich bin der Größte“ erhielt er 1977 keinen Credit mehr.
Von „Ganja and Hess“ erfuhr ich zum ersten Mal Anfang der 1980er Jahre aus James Monacos Buch „American Film Now“. Monaco widmet ihm in seiner Studie des New Hollywood ein eigenes Kapitel und am Ende des Buches taucht er zwei Bestenlisten von US-Kritikern auf. Ein legendärer Film, von dem man noch nie gehört hat? Das intrigierte mich. Ein Szenenfoto, in dem Marlene Clark tief dekolletiert, mit Turban und Weinglas vor einem Kamin steht, mehrte meine Faszination noch. (Im Film kommt der Moment übrigens nicht vor.) Monaco berichtet ausführlich, wie übel die Produzenten dem Film mitspielten. In seiner Startwoche hatte er in New York kaum 30000 Zuschauer, konnte aber von guter Mundpropaganda nicht mehr profitieren. In Cannes feierte er derweil in der „Semaine de la critique“ einen Triumph und kehrte ironischerweise als Teil eines von französischen Kritikern kuratierten Programms nach New York zurück, wo er im Museum of Modern Art ein enthusiastisches Publikum fand. Gunn konnte seine Produzenten überzeugen, dem Museum eine Kopie zu überlassen; das Negativ hatten sie zerstört. „But, someday, 'Ganja and Hess' will rise.“ prophezeit Monaco am Ende seines Kapitels.
Damals, in der ostwestfälischen Provinz, hätte ich nie davon zu träumen gewagt, ihn je zu Gesicht zu bekommen. Aber Monaco sollte recht behalten: Der Film wollte nicht sterben. Er tauchte immer mal wieder in Retrospektiven auf und erlangte allmählich Kultstatus. Spike Lee drehte 2014 ein Remake, „Da Sweet Blood of Jesus“, das anscheinend schauderhaft ist. Um so besser, „Ganja and Hess“ kann ein stolzer Solitär im Black Cinema bleiben: ein Film, in dem die Bilder, Worte und Klänge eine ganz eigene, ungeheuerliche Allianz eingehen. Vor fünf Jahren brachte ihn Kino Lorber in einer restaurierten Fassung heraus, die seine grobkörnige Anmut nicht glättet. (Über das Haar, das in einer Szene herumgeistert und nicht digital getilgt wurde, stehen im Netz ganze Essays.) Das Irrlichtern darf der Film sich also bewahren.
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