Der kleine Ausreißer und seine Mutter
Manche Kunstwerke entstehen, weil ihre Schöpfer alle Warnungen ignorieren, dass dies eigentlich unmöglich ist. Ein abendfüllender Spielfilm, dessen Budget nur 30000 Dollar beträgt Das war schon 1952 ziemlich unvorstellbar. Vor »Little Fugitive«, der seit gestern als Wiederaufführung in Kinos von Bamberg bis Wasserburg läuft, hatte es praktisch keine Independentfilme gegeben, die einfach so auf den Straßen New Yorks gedreht worden waren.
Seinerzeit wurde in aller Regel mit Kameras gefilmt, die auf ein Stativ montiert waren. Auch über diesen Standard setzen sich Morris Engel, Ruth Orkin und Ray Ashley hinweg. Engel ließ sich von Charles Woodruff eine kleine, leichte Handkamera bauen, die es ihm ermöglichte, den kleinen Ausreißer (so hieß der Film damals bei uns) Joey auf Augenhöhe und in jeder Lebenslage zu begleiten. Üblich war das 16mm-Format, aber Engel bestand auf 35mm. Der versierte Fotograf, der 1944 die Invasion in der Normandie hautnah mitverfolgt hatte, wollte nun auch Joey in bester Bildqualität ganz nahe kommen. Das debütierende, im Filmgeschäft aber nicht ganz unerfahrene Dreigestirn folgt dem Siebenjährigen zwei Tage lang auf seinen Irrwegen durch die Großstadt. Als die verwitwete Mutter zur erkrankten Großmutter fahren muss, gibt sie den Benjamin in die Obhut seines Bruders Lennie, der an seinem 12. Geburtstag unbedingt mit seinen Kameraden einen Ausflug nach Coney Island unternehmen will. Nun ist Joey ein Klotz am Bein. Um ihn loszuwerden, ersinnen die Jungs einen perfiden Plan: Sie lassen ihn in dem Glauben, er habe seinen Bruder beim Spielen mit einem echten Gewehr erschossen. Der verzweifelte Joey flieht, nimmt die erste U-Bahn, die ihn nach Coney Island bringt. Mit dem Geld, das die Mutter zurückgelassen hat, nutzt er mit nachgerade enzyklopädischer Unternehmungslust die Möglichkeiten, die sich ihm in dem Vergnügungspark bieten, fährt Karussell, lässt sich fotografieren, stürzt im Fallschirm aus luftiger Höhe, probiert seine Treffsicherheit aus und verspeist Zuckerwatte in rauen Mengen. Neben seiner Spielzeugpistole (an die sich William Klein vielleicht später erinnern wird) begeistern ihn Pferde. Als das Geld ausgegangen ist, sammelt er am Strand Pfandflaschen, um auf einem Pony reiten zu können.
Dieses Nichts von einer Geschichte wurde für einen Oscar nominiert und in Venedig gewann »Little Fugitive« einen Silbernen Löwen. Francois Truffaut nannte den Film eine entscheidende Inspiration für die Nouvelle Vague, die sich ebenfalls die Straßen der Stadt erobern wollte. Es ist nicht auszuschließen, dass auch Hirokazu Kore-eda und die Dardenne-Brüder diese Fabel von kindlicher Grausamkeit und Widerstandsfähigkeit kennen: »Nobody knows« und »Der Junge mit dem Fahrrad« haben viel mit ihr gemein.
Wie das Dreigestirn die Arbeit an »Little Fugitive« nun genau untereinander aufteilte, ist ein wenig rätselhaft. Von Ashley, der eigentlich Raymond Abrashkin hieß, stammt die Geschichte, so viel steht fest. Der Audiokommentar, den Engel für die DVD-Ausgabe von Kino-Lorber eingesprochen hat, liefert darüber hinaus wenig Anhaltspunkte. Engel erweckt den Eindruck, er habe den Film allein gedreht und seine Frau Ruth Orkin habe ihn im Schneideraum gerettet, weil sie ein präzises Gespür für continuity besaß und das Drehmaterial klug und effektvoll montierte. Ganz überzeugt bin ich davon nicht, denn beide Eheleute waren versierte und bekannte Straßenfotografen, als sie den Film in Angriff nahmen. Orkin war zu diesem Zeitpunkt sogar noch etwas berühmter als ihr Mann. Dass sie einen besonderen Blick für die Verspieltheit, Phantasie und Lebhaftigkeit von Kindern hatte, belegen einige Fotoserien, die sie in den 1940ern aufnahm, insbesondere »Jimmy tells a story« und »The Card Players«, die Edward Steichen 1955 in die epochale Ausstellung "The Family of Man" aufnahm. Beide Serien zeigen vergnügte Banden, die erste besteht aus Jungs, die Kartenspieler wiederum sind Mädchen. Das Bild zweier Brüder, das Orkin 1951 im Londoner Hyde Park aufnahm, weist noch deutlicher auf den Film voraus.
Ihr Werk wird hier zu Lande gerade wiederentdeckt. Bei Hatje Cantz erschien im Juli 2021 der Band "A Photo Spirit" und in diesem Monat „Women“. Die Herausgeberinnen Nadine Barth und Katharina Mouratatidi haben zu diesem Thema auch eine schöne Ausstellung für die Galerie fhochdrei (fhochdrei.org), die in Kreuzberg nur einen Steinwurf entfernt liegt vom "fsk", einem der Berliner Kinos, in denen »Little Fugitive« gerade angelaufen ist. Ich glaube, das erste Bild, das ich bewusst von ihr wahrnahm, war das verschmitzte Porträt ihres Kollegen Robert Capa auf dem Umschlag einer Biographie. Später begegnete ich natürlich auch ihrer Aufnahme der jungen Amerikanerin in Italien, die zu einer Ikone geworden ist. Es ist ein reiches Bild, immer wieder entdeckt man etwas Neues in dieser Straßenszene, dem Spießrutenlauf einer Ausländerin, die sich mit bangem Selbstbewusstsein inmitten präzise gruppierter Männer in Florenz ihren Weg bahnt. Orkins Modell begegnet man mehrmals in "Women", sie trägt den hübschen Künstlernamen Jinx. Mit ihren schweren Lidern und den brünetten Haaren könnte man sie durchaus für eine Italienerin halten, tatsächlich handelt es sich um eine aufstrebende US-Schauspielerin, der die Fotografin zufällig begegnete und mit der sie einen ganzen Zyklus inszenierte.
Orkin ist eine Meisterin der seriellen Form (ihr Ehemann hatte nicht Unrecht, wenn er ihr Gespür fpr Sequenzen pries), die bestimmte Situationen oder Orte (etwa einen Schönheitssalon) aus unterschiedlichen Perspektiven und in unterschiedlichen Stimmungen herausarbeitet. Fabelhaft ist eine Doppelserie, die sie unmittelbar nach Kriegsende für die "New York Times" aufnahm. Sie sind spiegelbildlich gehängt. In der ersten "Career Woman or Housewife?" zeigt sie eine berufstätige Frau, die sich in diversen Arbeitssituationen bewährt. In der Folgegeschichte "Housewife or Career Woman?" kehrt sie den Fokus entsprechend um. „Women“ zeigt Frauen in allen Lebenslagen, natürlich auch als Mütter. Eindrucksvoll pointiert ist das Bild einer New Yorkerin, die ihr Kind die Treppe einer Subway Station hoch trägt und in der anderen Hand einen Vogel hält. Einige Fotos zeigen Besucherinnen des Tanglewood Festivals, die sie wohl als privates Nebenprodukt einer Auftragsarbeit über Leonard Bernstein. Orkin fotografiert Freundinnen und Weggefährtinnen, aber auch viele Filmstars und Starlets. Sie wurde ins Filmgeschäft geboren, ihre Mutter war eine namhafte Stummfilmdarstellerin. Ursprünglich wollte sie Kamerafrau in Hollywood werden, aber die Gewerkschaft ließ 1942 noch keine weiblichen Mitglieder zu. Also wurde sie Fotografin; die erste professionelle Kamera hielt sie schon als junges Mädchen in Händen. 1939 pilgerte sie, mit gerade einmal 17 Jahren, von Los Angeles zur Weltausstellung nach New York und erbeutete auf dem Weg dorthin eindrückliche Fotostudien, die eine glänzenden Visitenkarte waren.
Ausstellung und Bildband versammeln ausschließlich Aufnahmen, die in den Jahren vor »Little Fugitive« entstanden, mithin wird auch hier ein Weg nachvollzogen: die Erfahrungen, die sie rasch als Straßenfotografin sammelt. Großartig die Studie in Blau, die Rex Harrison und Lilli Palmer während Dreharbeiten auf dem Broadway zeigt und ahnen lässt, dass ihre Ehe nicht mehr lange halten wird. Das Umschlag- und Plakatmotiv mit der telefonierenden Lauren Bacall ist offensiv charakternah. Auch die Bilder, die sie im Auftrag der Hollywoodstudios dreht, sind also mitunter situativ, Jane Russell etwa ist bei Musikaufnahmen zu sehen oder Doris Day aufgekratzt in Drehpausen (bereits burschikos, aber noch bevor sie Jungfrau war). Meist sind es jedoch klassische Porträts, auf denen die Gesichtszüge von Hoffnungen auf große Karriere künden. Dawn Addams wirkt noch ganz britisch. Angie Dickinson ist nicht wieder zu erkennen auf der Studie von 1952, was schlicht und einfach daran liegt, dass die Bildlegende nicht stimmt - nicht sie ist abgebildet, sondern Julie Adams.
Sieht man für einen Moment von den Frisuren, der Kleidung und Schminke ab, wirken die porträtierten Frauen ungemein modern. Ihr Ausdruck ist zum Greifen nahe. Er ist frisch und unmittelbar, er überspringt die Epochen. Dieser Eindruck von Zeitlosigkeit stellt sich zwar auch in den Porträts ein, aber er ist darüber hinaus vor allem dem Umstand geschuldet, das Orkin Frauen bei der Arbeit und in der Bewegung zeigt. Sie befinden sich im Aufbruch, stehen an der Schwelle zu einer neuen Zeit. Für die Fotografin gilt das auch. Sie ist bereit für den kleinen Ausreißer, und für mehr als ihn.
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