Willkommen im Geviert
Es geht augenblicklich mit den existenziellen Fragen los: Warum gab es zu Anbeginn ein Etwas und kein Nichts? Was machen wir alle hier? Wie wurde aus Staub Leben? Wann trat der Tod erstmals auf den Plan? Und brachte er das Leben voran?
Es geht um das große Ganze in Terrence Malicks »Voyage of Time«. Unerschrocken fängt er mit der Entstehung des Universums an und wird nicht müde, sich über den Gesamtzusammenhang der Welt zu wundern. Rätsel gibt dieser schließlich genug auf. Verwunderung und Erstaunen, die ohnehin zum Kernbestand seines Werks gehören, sind mithin vollends entfesselt. Von der Verpflichtung, eine Handlung zu erzählen, wären seine Spielfilme ja auch gern entlastet. In diesem filmischen Essay scheint Malick ihr gänzlich enthoben, abgesehen natürlich von der großen Erzählung der Ontogenese.
Der Film, der 2016 seine Premiere in Venedig feierte, ist aktuell auf der Streamingplattform MUBI zu sehen: in der Kurzfassung, die Malick ursprünglich für IMAX-Kinos einrichtete. Mit 45 Minuten ist sie gerade so lang wie die Natur- und Geschichtsdokumentationen, die tagtäglich auf Sendern wie ZDFinfo rauf und runterlaufen. Mit ihnen hat er einen häufígen Mit-Produzenten gemein (National Geographic), ebenso wie die Mischung aus Realaufnahmen und Animation (die Spezialeffekte stammen von Dan Glass, der bei der Matrix-Saga schon Erfahrung in Sachen Weltenschöpfung gesammelt hat). Für den Bildschirm ist seine Bildmacht nicht unbedingt gedacht, muss sich aber nun auf ihm behaupten. Auch in den handelsüblichen TV-Dokumentationen werden ja ständig die großen existenziellen Fragen gestellt (und gern wiederholt), freilich als raunendes Suspense-Element, das sich in der Regel nicht einlöst. Das Raunen bei Malick klingt anders: Er würde die Antworten tatsächlich gern kennen.
Die Streamingplattform stellt zu Beginn eines neuen Jahres regelmäßig Alles auf Anfang: mit ihrem Programm "First Films First", in dem die Erstlingsfilme nachmalig berühmter RegisseurInnen laufen. »Voyage of Time« war 2016 für Malick ein Debüt: Plötzlich kein Spielfilm unter seiner Regie, sondern ein dokumentarischer Essay. Rund fünf Jahre später wirkt er zugleich abgehangen und frisch. Eine Vorahnung gab es schon 2011 in »The Tree of Life«, in den er eine 15minütige Schöpfungsoper eingeflochten hatte. »Voyage in Time« ist sozusagen eine Auskoppelung, allerdings wechselseitig, gleichermaßen ein Solitär wie ein Bindeglied.
Die Gemüter, die sich an diesem Regisseur scheiden, können es hier aus anderen Gründen tun: In »Voyage of Time« stehen die Fragen und Bilder im Vordergrund, die sich hinter denen seiner anderen Filme verbergen. Malick offenbart, ja entblößt, was zuvor vage und entrückt wirkte; wenngleich auf nachdrückliche Weise. Das Seinsverständnis Martin Heideggers war dort ein atmosphärisches Element, das nicht zu übersehen und -hören war. Nun benennt er es direkt und unmittelbar, visuell, akustisch und in Worten. In der Kurzfassung spricht Brad Pitt den Kommentar, er flüstert ihn fast, als würde die Ehrfurcht vor der Schöpfung keinen robusteren Stimmpegel vertragen. Seine Erzählung nimmt die Gestalt eines Briefes an, der sich an sein Kind richtet. Vielleicht ist es das Mädchen, das man zwischendurch sieht, wie es die Welt beim Spielen entdeckt, absichtslos und fest entschlossen. Cate Blanchett fällt beim Sprechen des Off-Kommentars der Langfassung die – schon wegen der Adressatin - schwierigere Aufgabe: Sie richtet sich an eine kosmische Mutter, ihr Text ist ein Gebet.
Einem Brief hingegen eignet das Pathos der Hinterlassenschaft. Aber welches Erbe hinterlässt der Vater, welches Wissen will er dem Kind vermitteln? Die Welt kann er ihm nicht erklären, sondern nur erzählen. »Voyage of Time« nimmt sein Publikum nicht pädagogisch bei der Hand. Es ist keine Dokumentation, die ihm etwas beibringt. Außer einer Sichtweise freilich, einer Haltung zu dem, was Heidegger das Geviert nennt, das aus Himmel und Erde, Sterblichem und Göttlichem zusammengefügt ist. Die Frage ist bedeutsamer als die Antwort, sie ist auch redlicher. Der Mensch, da ist Malick ganz bei Heidegger, ist nur ein Gast, der auf der Welt wohnt und sie schonen soll. Den Verdacht, der Regisseur könne mit den anderen Erdbewohnern mehr anfangen als mit seinen Artgenossen, räumt der Film nicht ganz aus. Die Dinosaurier sind wiederum putzig (der böse Asteroid lässt indes nicht lange auf sich warten), und auch der Rest der Fauna bietet der Kamera von Paul Atkins ein faszinierenderes Schauspiel. Der Flora ebenfalls: Es braucht Äonen, um einem Blatt seine vollendete Gestalt zu geben. Dennoch ist der Auftritt der ersten Menschen nicht so schlecht inszeniert, wie viele Kritiker seinerzeit schrieben: Wie einer unserer Vorfahren sein eigenes Antlitz im Wasser entdeckt, ist schon berückend. Aber eben nur ein Beispiel für das unerschöpfliche Genie der Natur. Immerhin jedoch ein Kapitel, das die Frage nach dem Bewusstsein aufwirft: War es schon immer da?
Der Kamerablick ist phänomenologisch, er reibt sich an der Vielfalt des Sichtbaren. Auch sie ist unerschöpflich. Das location scouting lag nicht in Händen von Schauplatzsuchern, sondern von Wissenschaftlern, die genau sagen konnten, wo auf der Welt diese noch so ausschaut wie in den Momenten, als sie entstand. So gehen Wissenschaft und Verzückung in der Naturbetrachtung dieses Films unweigerlich Hand in Hand. Das Unfassbare, die Grenzenlosigkeit des Universums in Bilder zu fassen, ist eine Herausforderung, der sich Malick ungeschützt aussetzt, mit erhabener Naivität.
40 Jahre lang ging er mit dem Projekt schwanger. Ende der 1970er trug es den Titel "Q" (wie in" Question"?), aber Paramount bekam bald kalte Füße. Einige der damals erbeuteten Bilder sind offenbar noch erhalten in „Voyage of Time“. Die Entstehungsgeschichte ist schillernd und wohl auch erratisch; die tatsächlichen Dreharbeiten dauerten zehn Jahre. Zeitweilig verklagten Malicks Geldgeber den Regisseur, der laut Anklageschrift "vergessen" habe, an ihm weiterzuarbeiten. Unter ihnen ist die erzkonservative katholische Laienbruderschaft "Knights of Columbus", die wohl nicht allzu viel Freude am Ergebnis habt haben wird. Jedenfalls kein Film für Keationisten. Für Gott gibt es in dieser Schöpfungskosmologie Alternativen oder zumindest Synonyme, zum einen die Trägerin allen Lebens, zu der Cate Blanchett spricht. Der oder die AdressatIn des Briefes wiederum wird als "Kind des Guten" angesprochen, das ins Licht geboren wurde und selbst eines ist. Weshalb Malicks Frau Alexandra im Abspann als "Botschafterin des guten Willens" aufgeführt wird, ist ein prächtiges Rätsel für sich. Gleichviel, nun hat er sich diesen langgehegten Traum erfüllt und kann sich seinem nächsten Projekt zuwenden. Auch da geht es ums große Ganze: Er will das Leben von Jesus Christus verfilmen.
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