Moralische Anstiftung
Der Offizier des Nachrichtendienstes, der 1976 die Dreharbeiten zu »Le Juge Fayard, dit Le Shériff« (Der Richter, den sie Sheriff nannten) in überwachte, wahrte in der Regel berufsmäßige Diskretion. Eines Tages jedoch wies er Yves Boisset auf einen Schaulustigen in Regenmantel und Hut hin. "Erkennen Sie ihn?", fragte er den Regisseur.
Es handelte sich um Pierre Pourrat, genannt "Der Doktor", der in den 1970ern zu den meistgesuchten Verbrechern Frankreichs zählte und an den die Figuren angelehnt waren, die Michel Auclair und Marcel Bozzufi im Film spielen. "Was hält Sie davon ab, ihn zu verhaften?", fragte Boisset erstaunt. Er sei unantastbar, erwiderte der Beamte, er stehe unter dem Schutz des SAC, des "Service d' action civique", der gaullistischen Miliz von Charles Pasqua. Lächelnd fügte er hinzu: "Genau wie in Ihrem Drehbuch" .Die mulmigere Frage ist natürlich, weshalb ein Geheimdienstmann das Drehbuch eines französischen Filmemachers kennt.
Aber belassen wir es vorerst bei der Feststellung, dass Yves Boissets Politthriller, die nun dank des Filmkollektivs Frankfurt wiederentdeckt werden können, der Realität so brenzlig nahe kamen wie sonst nur die Arbeiten von Costa-Gavras, Damiano Damiani, Alan J. Pakula oder Francesco Rosi. Er drehte aus wacher, empörter Zeitgenossenschaft. Kaum verschlüsselt griff er ungeklärte Affären auf, die dem Publikum frisch in Erinnerung waren: die Entführung des marokkanischen Oppositionspolitikers Ben Barka in dem verschwenderisch besetzten »L'Attentar« (Das Attentat, 1972) oder die Ermordung des Untersuchungsrichters François Renaud in Lyon, der in Boissets Film Fayard heißt und glaubt, dass die Bosse nicht völlig unantastbar sind. Gleichviel, ob in den Vor- oder Abspannen betont wird, die Handlung basiere nicht auf realen Ereignissen und Personen, immer stach er in ein Wespennest. Die Widerstände gegen seine Filme waren groß, auf politischer wie gesellschaftlicher Ebene: Vorzensur, verweigerte Drehgenehmigungen, Anschläge auf die Dreharbeiten, Aufführungsverbote. Jedoch war dies Kino der politischen Entlarvung und moralischen Anstiftung in seiner Zeit außerordentlich populär. In der Regel verkauften Boissets Filme in Frankreich bei ihrer Erstauswertung weit über eine Millionen Kinokarten.
Die deutsche Kritik meldete seinerzeit massive Bedenken an, denn es gehörte sich schließlich nicht, dass Politfilme unterhaltsam waren. Sie verleumdete Boissets Genrearbeiten als reißerisch und übersah geflissentlich, wie tiefschürfend ihre Analyse der Verhältnisse war. Zupackend ist sein Kino in der Tat. Die ersten Einstellungen, gern in Großaufnahme und mit Handkamera gefilmt, schleudern das Publikum geradewegs in die Handlung herein. Diese Mittendrin-Ästhetik funktioniert bei Schlägereien ebenso gut wie bei Demonstrationen. Boisset kann später dann kühleres Blut bewahren; die Drehbücher, an denen er selbst mitwirkte, protokollieren nüchtern die Konsequenzen, die schon nebensächliche Ereignisse haben können. Die Charaktere geraten ins Räderwerk. Einer der beklemmendsten Einstellung, die ich kenne, ist das Travelling, das in »L' Attentat« den ruhigen Schritten eines Abhörspezialisten folgt, der sodann seinen Hintermännern berichtet, wo sie Jean-Louis Trintignant finden und ausschalten können.
Mit der Reihe "Cinéma du Combat – Das politische Genrekino von Yves Boisset" leistet das rührige Filmkollektiv also wieder einmal wertvolle Schrittmacherdienste. 14 seiner Filme zeigen die Frankfurter in diesem Monat, als 35-Millimeter-Kopien und fast sämtlich in untertitelten Originalfassungen (www.filmkollektiv-frankfurt.de/veranstaltungen/werkschau-yves-boisset). Das ist ein erstaunliches, inzwischen kaum mehr vorstellbares Unterfangen. Frédéric Bonnaud, der Leiter der Cinémathèque francaise, träumt seit Jahren von einer Boisset-Retro, was bislang aber an der katastrophalen Kopienlage in Frankreich scheiterte. Im dortigen Fernsehen wurden Boissets Filme rauf und runter gespielt, aber die Rechteinhaber kamen bisher nicht auf die Idee, sie zu restaurieren. Glückliches Frankfurt!
Boisset ist neben Costa-Gavras inzwischen der letzte Überlebende einer vitalen, kämpferischen Genretradition: ein Siegelbewahrer, der diese in späteren Karrierejahrzehnten noch ins Fernsehen hinüber gerettet hat. Er fing als cinéphiler Kritiker an, verfasste beispielsweise zusammen mit Jean-Pierre Coursodon und Bertrand Tavernier (der als Namensvetter des Oberschurke in »Un Condé« / »Ein Bulle sieht rot« fungiert) eines der grundlegenden Bücher über das US-Kino. Sein Handwerk lernte er als Assistent bei Jean-Pierre Melville, René Clément, Claude Sautet, Riccardo Freda und anderen. Seine Weltsicht jedoch geht ganz auf die eigene Kappe. Er säkularisiert gleichsam die mythische Dimension der Films noir von Melville. Der Ehrenkodex der Gangster ist in »Un Condé« den klassischen Vorbildern verpflichtet, existiert aber nurmehr als Spurenelement. Nur zwei, drei von ihnen fühlen sich noch an ihn gebunden. In der Figur, die Rufus verkörpert, kommt ein neues Element hinzu: anarchische Solidarität. Das Klima, das Boissets Thriller einfangen, ist entschieden zeitgenössisch: Sie hätten unmöglich vor dem Mai 68 entstehen können.
Das zeigt sich einerseits in dem abgrundtiefen Misstrauen, ja der Abscheu, mit der die Polizei gezeichnet ist. Ihre Moral steht in Frage, ihre Methoden sind nachgerade faschistisch. Die Spiegelbildlichkeit von Polizist und Gangster, die zur Folklore des Genres gehört, gewinnt hier neue, ungekannte Facetten. »Un condé«, wo Verhörszenen ausgefuchst gegen den Strich gebürstet werden, ist in dieser Hinsicht ein Meisterwerk der Ambivalenz. Michel Bouquet ist jedes Mittel recht, um seinen Freund und Kollegen Bernard Fresson zu rächen. Er ist wahnsinnig einfallsreich, fälscht Indizien, erpresst Verdächtige und manipuliert Vorgesetzte. Er versteht es, die Angst von Bescholtenen und Unbescholtenen zu nutzen. Boisset zeichnet ihn als einen Besessenen, dem es nicht an schwefelhafter Tragik gebricht.
Seine Filme spielen in keiner Parallelwelt, sondern einem kompromittierten Rechtsstaat. Die wenigen aufrechten Flics, die Fresson, Philippe Léotard und nicht zuletzt der große Francois Périer bei ihm verkörpern, kommen nicht weit. Das böse Genie des Systems steht dagegen; es vermag noch Jeden zu seinem Instrument zu machen. Die Präambel der Verhöre, die sie oder Patrick Dewaere als Fayard führen, ist unweigerlich eine Drohung. Die Verdächtigen warnen sie vor den Konsequenzen, die allzu hartnäckige Fragen für die Ermittler haben könnten. Die Schergen genießen Protektion (die SAC muss wirklich ein Sammelbecken übler Gestalten gewesen sein). Die hochrangigen Schurken wiederum sind bei Boisset hinreichend charismatisch und stets auch unter den Vorgesetzten zu finden: raffinierte Bürokraten, die es hassen, wenn einer der Ihren Sand ins Getriebe schüttet. Auf die Gewaltenteilung ist kein Verlass.
Boissets Unbehagen an den Verhältnisse ist zwar umfassend, aber nicht diffus. Die Korruption ist gesetzt, jedoch nicht als bequeme Prämisse, sondern als etwas, das gründlich in allen denkbaren Verästelungen untersucht und entlarvt werden muss. Die Montage seines Schnittmeisters Albert Jurgensons ist gnadenlos assoziativ. Sie stellt Analogien zwischen den unterschiedlichen, feindlichen Sphären her. Atemlos ist sie auch, schneidet brüsk noch vor dem Fragezeichen. Die Ellipsen sind oft unerhört in Boissets Filmen. Andererseits, warum minutiös einen Gefängnisausbruch zeigen, wenn die Konsequenzen viel bezeichnender sind?
Boisset schaute genau hin, welch unterschiedliche Blüten der Machtmissbrauch in der Ära de Gaulle, Pompidou oder Giscard trieb. Die Widersprüche der Besatzung und Résistance wirken fort. Wenn es eine Erbsünde in seinem Kino geben sollte, wäre es der Algerienkrieg. Die Kränkung und Unentwegtheit der Veteranen gebiert in der Gegenwart von »Dupont-Lajoie« (Monsieur Dupont, 1975) Ungeheuer. Während hier der Rassismus alltäglich ist, kann er – Boissets Filme antworten aufeinander - in »Fayard« unsichtbar bleiben. Philippe Sardes Vorspannmusik spielt klug zum Maghreb hinüber, und ein paar Dialogsätze genügen um zu erahnen, dass an diesem ungekannten Schauplatz im Süden Frankreichs einmal der Front National reiche Fischgründe finden wird. Ansonsten dreht er gern im Osten des Landes, nahe der Grenze zur Schweiz, wo sich hervorragend Geld waschen lässt. Indes ist Boisset ein vorurteilsloser Linker; »Barracuda«, sein Projekt über geheime Machenschaften des Mitterand-Regimes in Afrika scheiterte (trotz Belmondo als Hauptdarsteller!) an wirtschaftlicher Zensur, an verweigerter Förderung und eingeschüchterten Produzenten.
Der Pessimismus ist obligatorisch für dieses Enthüllungskino. Die Paranoia ist nicht nur gerechtfertigt, sondern Indiz der Geistesgegenwart. Jedoch ist die Aussichtslosigkeit nur der Endpunkt seiner Drehbücher, aber nicht deren Konsequenz oder Botschaft. Sich den Anstand zu bewahren, scheint im Kosmos der Filme unmöglich. Aber Boisset erwartet es von seinen Helden. Sie sind nicht furchtlos, können aber ohne Zivilcourage nicht existieren. Ennio Morricone und Sarde komponierten entsprechend unerbittliche Themen für sie. Ihre moralische Unruhe lässt sie zu schwierigen Partnern werden, ihre emotionalen Beziehungen sind konfliktreich und nie reizarm. Ungebrochen sind sie, vielleicht mit Ausnahme von Gian Maria Volonté in »L'attentat«, nie. Ihr Elan entspringt dem Widerspruch. Niemand bleibt sauber, wenn er den Sumpf der Korruption trockenlegen will.
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