Groß denken, schlank sitzen
Ich kam mit dem Recliner einfach nicht zurecht. Natürlich beriff ich, wie er funktionierte: per Knopfdruck in jede gewünschte Position, die Beine hoch oder doch mit Bodenhaftung. Allerdings hatte ich mir den Ledersessel breiter vorgestellt und das kleine, verschiebbare Tischchen war immer im Weg. Beim Herausgehen sahen wir, dass es eine ziemliche Popcorn-Schleuder ist.
In der Lobby des CinemaxX am Potsdamer Platz war das schwarze Ungetüm als ein Quantensprung in Sachen Luxus und Bequemlichkeit annonciert worden. Weniger Sitze, dafür in jedem VIP-Gefühl! Seit die Multiplex-Kette von der britischen Vue-Gruppe übernommen wurde, müssen alle Kinostandorte umgerüstet werden. Das Haus am Potsdamer Platz mutete an diesem Sonntagnachmittag so einladend wie eine Baustelle vor dem Richtfest an.
Meine Begleiterin war hingegen begeistert und fühlte sich pudelwohl in der supermodernen Sitzgelegenheit. Sie ist allerdings auch doppelt so schlank. Während die Trailer liefen, spielte sie vergnügt mit dem Verstellknopf und probierte erst einmal jede Haltung aus. Sie fand es großartig, die Beine so weit von sich strecken zu können! Ich bevorzuge den aufrechten Sitz. Das Risiko des Kritikerschlafs ist schlicht geringer als in der Horizontalen. Zugegeben, das ist ein Minderheitenproblem. Allerdings schlummerte meine Begleitung prompt ein. Das mochte auch am Film liegen - „Glass Onion“ hängt ja schon ein wenig durch, bevor dann in der Mitte alles noch einmal auf Anfang gestellt wird –, zudem hatte die Kinoleitung keine Kosten gescheut, den Saal auf tropische Temperaturen zu bringen. Trotzt man so der Krise, der der Kinos und überhaupt?
Die Werbebanner, die im CinemaxX aufgestellt waren, machten jedenfalls mächtig Propaganda für das neue Kinogefühl und polemisierten verschmitzt gegen die Qual der Wahl, die man auf den Streamingplattformen hat. Für mich klang das ein wenig defensiv. Der Slogan „Füße hoch und Abflug nach Pandora!“ könnte sich jedoch ab morgen als eine lukrative Verlockung erweisen. In den 1990er Jahren, als es mit den Multiplexen losging, war das Versprechen auf Sitzkomfort ja ein wirksames Heilmittel gegen die Kinokrise gewesen. Es lässt sich gewiss immer noch steigern, aber wohl nicht endlos. Falls der Recliner das Nonplusultra sein sollte, mag ich keine massenhafte Rückkehr in die Kinosäle prophezeien.
Dass es noch Luft nach oben gibt, scheint niemand besser zu wissen als Jérome Seydoux, der Patron des französischen Konzerns Pathé. Er hat sich in den letzten Monaten zum Wortführer der Branchen erhoben (siehe „Das halbe Gesicht“ vom 4. Oktober), weil er angeblich genau weiß, woran es dem französischen Kino derzeit gebricht: Es denkt nicht groß genug. Ob seine hochfliegenden und hoch budgetierten Pläne verfangen, muss sich zeigen. Pathés zweiteilger Neuaufguss der „Drei Musketiere“ ist für das nächste Jahr auch bei uns ngekündigt. Da seine Firma nicht nur Produzent, sondern auch marktführender Kinobetreiber im Hexagon ist, nimmt er sich aber zunächst einmal die eigenen Säle vor.
Das ehemalige Gaumont Montparnasse in Paris hat er gerade modernisieren lassen. Am heutigen Mittwoch, pünktlich zum „Avatar“-Start, eröffnet es unter dem neuen Namen Pathé Montparnasse. In allen 12 Sälen gibt es nur noch Premium-Plätze. Bestimmt sind sie gemütlich, das Patent für den Recliner hält ja Vue. Die Anzahl der Kinositze wurde radikal reduziert, von 2000 auf nunmehr 800, jede zweite Reihe wurde entfernt und an die Sitzbreite hat man bestimmt auch gedacht. Premium sind aber auch die Preise. Mit 18, 50 Euro sind sie anderthalb mal so hoch wie im PathéDurchschnitt. Für Studenten, Kinder und Frühausteher wird es preiswerter. Ich vermutete, dieses Luxuskonzept verfängt allenfalls bei Blockbustern. Autorenfilme wie „An einem schönen Morgen“ wird man sich in anderen Kinos anschauen. Nun, Seydoux denkt antizyklisch, was in der Branche gern als Erfolgsrezept präsentiert wird. Er spricht von einer „höherwertigen Dienstleistung“, die „einen immensen Unterschied“ macht. Das Ganze könnte indes ein kapitaler Fall von „Nobel geht die Welt zugrunde“ werden.
Zwar hat sich der Kinobesuch in Frankreich ein wenig von der Pandemie erholt. Das Herbstgeschäft war, gerade im Hinblick auf eigene Produktionen, vielversprechend. Nicht nur heimische Blockbuster wie „November“, auch „Simone – Le Voyage du siècle“, ein Biopic über Simone Veil mit Elsa Zylberstein in der Titelrolle, liefen beispielsweise mit durchaus spektakulären Zahlen an. Allerdings kann man in Frankreich recht preiswert ins Kino gehen. Der Eintrittspreis liegt momentan im Durchschnitt bei 7,99 Euro, denn zwei Drittel der Kinogänger erhalten einen Preisnachlass, weil sie zum Beispiel bestimmten Altersgruppen angehören oder die wohlfeilen Vormittagsvorstellungen besuchen. Die freundliche Kassierein im CinemaxX wunderte sich übrigens an jenem Sonntagnachmittag, dass unsewre Karten nur 5, 99 Euro kosteten. Sie und ich hatten mit dem doppelten Preis gerechnent, zumal mit Überlängen-Zuschlag. Aber nein, der Computer gab das so an. „Ist das der Netflix-Tarif?“ fragte ich. Sie lächelte zurück, aber dann blickte sie ein wenig ratlos drein.
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