Fremder Vertrauter
Léa Seydoux kehrt in „An einem schönen Morgen“, der in dieser Woche anläuft, zu ihren Wurzeln zurück. Mit Kurzhaarfrisur und Rucksack darf sie auf den ersten Blick so unscheinbar wirken wie in ihren frühen Alltagsrollen. Natürlich darf sie das nicht wirklich. Ihre Regisseurin und die hiesigen Feuilletons vergessen nicht, dass sie eine Starschauspielerin ist.
Das Ereignis des Films war für mich jedoch Pascal Greggory, der ihren Vater spielt. Beinahe hätte ich „Sensation“ geschrieben, aber das verträgt sich schlecht mit seiner leisen Präsenz in diesem Film. Georg war bis vor kurzem ein Philosophieprofessor, der von seinen Studenten bewundert wurde wegen seiner Beredtsamkeit und wohl auch der Poesie, die in seinen Worten zu erahnen war. Nun hat er Schwierigkeiten, sie zu finden; erst recht die passenden. Er kann nicht benennen, was er meint. Die Gabe, sie Situationen zu begreifen, ist ihm abhanden gekommen. Er leidet, wie der Vater von Mia Hansen-Love, an dem sehr seltenen Benson-Syndrom, das ähnliche Symptome wie Alzheimer aufweist, aber nicht mit dieser Krankheit verwechselt werden sollte. Nicht nur sein Erinnerungsvermögen, auch seine Sehkraft lassen nach. Wenn seine Tochter Sandra mit ihm spricht, weis er oft nicht, mit wem er es zu tun hat. Er versucht es nach Kräften. Vielleicht spürt er, was er sagen sollte, und ist sich seines Scheiterns vage und doch schmerzhaft bewusst. Jede Begegnung, jedes Gespräch wird zu einer Belastungsprobe für die Beteiligten. Es muss wiederhergestellt werden, was zuvor noch selbstverständlich war. Wie gesagt, er gibt sich alle erdenkliche Mühe: wie ein Kind, das eine Verpflichtung spürt. Lebensneugier spürt Georg ohne Zweifel noch in sich. Sie will vorstoßen zu dem, was gerade passiert. Er ahnt, dass es wertvoll ist, eine Aufgabe, deren unmögliche Erfüllung seiner Familie bewusst ist. Greggory spielt diesen Georg als einen höflich Erlöschenden, der niemandem Probleme bereiten will, nicht dem Pflegepersonal und nicht seinen Angehörigen. Ein renitenter Kranker ist er nicht, vielmehr ein friedfertiger. Sein Leiden bedeutet unermessliche Härten, die der Film mit Wehmut umfängt.
Ein paar Wochen zuvor, als ich mich mit einer kleinen Stoffgeschichte der Bronte-Schwestern beschäftigte (für den Eintrag vom 26. 11), habe ich Greggory schon einmal beim Dahinsiechen seiner Figur zusehen müssen. In „Die Schwestern Bronte“ leidet sein Branwell leidet am Leben, an der Trunksucht, der Unmöglichkeit, sich zu orientieren im Dasein, emotional und sittlich. Er hat eine unglückliche Liebe erlebt, zu einer verheiraten Adligen in der Nachbarschaft; eine Passion, die seine Schwestern bei André Téchiné in diesem Ausmaß noch nicht durchlitten haben. Obwohl der Film nach ihnen betitelt ist, steht er beinahe in seinem Zentrum. Wenn ich es recht bedenke, hat dieser Schauspieler mein gesamtes Leben als Cinéphiler begleitet. Ich habe es nicht immer gemerkt, aber natürlich habe ich Notiz genommen von ihm in den Filmen von Patrice Chéreau und Éric Rohmer, in denen er mal tragende und mal Nebenrollen spielte. Es würde mich wundern, wenn es Ihnen nicht enbenso ergangen wäre. Sein Gesicht ist markant dank der hohen Wangenknochen und des suchenden Blicks. Sie haben ihn vielleicht als Edith Piafs Manager in „La Mome“ gesehen, als Ehemann in „Das Mädchen, das die Seiten umschlägt“, als Saint-Loup in „Die wiedergefundene Zeit“, als einen der vielen Adligen in Bessons „Johanna von Orléans“ und Chéreaus „Die Bartholomäusnacht“ oder als Verleger in „Zwischen den Zeilen.“. Er war immer da, wenn seine Regisseure und wir im Publikum ihn brauchten, wandlungsfähig und zuverlässig.
Stürmisch konnte er sein, aber eben auch schon in frühen Rollen entrückt. Diese Aura gefiel mir auch später noch in „Vertraute Fremde“, Sam Garbarskis Verfilmung des Mangas von Jiro Taniguchi. Ich hatte gar nicht mit ihm gerechnet in diesem Film, und dann war er ganz präsent in der Verlorenheit eines Mannes, der Familie und Beruf hinter sich lässt (und nicht genau weiß, weshalb), dann aber jedenfalls den falschen Zug nimmt, in seiner Heimatstadt landet, am Grab der Mutter ohnmächtig wird und dann sein Leben als Heranwachsender neu betrachtet. Es war immer ein wenig merkwürdig, ihn in Filmen anderer Regisseure zu sehen. Seine Leinwandpersona formierte sich Anfang der 1980er vorsichtig bei Rohmer, in „Die schöne Hochzeit“ und „Pauline am Strand“; als ehrgeiziger Bürgermeister in „Der Baum, der Bürgermeister und die Mediathek“ war er noch nicht vollends saturiert. Seine Karriere nahm Fahrt auf, als er Chéreau kennenlernte, mit dem er lange Zeit zusammenlebte. Im Kino und Theater kamen sie einander nie abhanden. Mein Favorit in ihrer langen Zusammenarbeit ist „Gabrielle-Liebe meines Lebens“ von 2005. Das Anhängsel des deutschen Titels führt auf die falsche Spur. Da verkörpert er einen Geschäftsmann,, der bei der vorzeitigen Heimkehr aus dem Büro einen Brief vorfindet, in dem seine Ehefrau (Isabelle Huppert) ihm eröffnet, sie würde ihn wegen eines anderen Mannes verlassen. Mit einem Mal gerät seine wohlgeordnete Existenz aus dem Gleichgewicht. Bislang hat er über seine Frau mit der Selbstgewissheit eines Sammlers verfügt, der in ihr nur ein Prunkstück, eine Preziose sah. Er ist überzeugt, ihre Gedanken, ihre Träume gar, genau zu kennen. Greggory spielt ihn als einen Eroberer, dessen Virilität sich im Besitz erfüllt. Er verleiht diesem Souverän der geschäftlichen und sozialen Übereinkünfte die Rohheit frühkapitalistischen Erfolgsstrebens. Sein Ringen um den Erhalt der äußeren Form, der bürgerlichen Fassade, mündet in ein Wechselbad aus Demütigung und uneingestandener Sehnsucht. Ich mochte ihn ungemein in dieser Rolle, die man nicht mögen konnte. Nachdem ich „An einem schönen Morgen“ gesehen hatte, dachte ich oft an sie. Obwohl sie vom Verschwinden handeln, kann man sich gegensätzlichere Figuren kaum vorstellen. Bei Chéreau findet er keine Worte für seine Gefühle, weil er sie nie empfand. Bei Mia Hansen-Love hat es sie gegeben. In beiden Filmen jedoch ist er zuverlässig zur Stelle: als Erinnerungsschauspieler, der festhalten will.
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