Familiär
Seine Karriere zeigt, was für eine prächtige Triebfeder der Zweifel sein kann. Zu Anfang fürchtete er, dass er nie etwas anderes als sympathische Taxifahrer spielen würde. Er verstand partout nicht, weshalb er später als Inbegriff des Latin lover galt. Hatte denn niemand die Filme gesehen, in denen er zauderte, impotent war oder homosexuell? Außerdem waren seine Beine doch viel zu dünn!
Auf die Idee, er sei ein Jahrhundertschauspieler, wäre Marcello Mastroianni aus lauter Bescheidenheit wohl nie gekommen. Diese war nicht falsch, aber dennoch ein Irrtum. Das lässt sich ab heute im Berliner Arsenal überprüfen, das ihm über zwei Monate hinweg eine Retrospektive widmet. Kuratiert hat sie Hans-Joachim Fetzer, der das italienische Nachkriegskino liebt und kennt. Bei den zahlreichen Filmreihen über dessen Strömungen und Randbezirke, die er konzipiert hat, kam er an dem Schauspieler selten vorbei. Ich glaube, zum letzten Mal sahen wir uns bei einer Vorführung von »Diebe haben 's schwer«, der nun zur Eröffnung läuft.
Es ist gescheit, mit dem Komödianten Marcello zu beginnen. Er ist die Grundierung seiner Filmkarriere, die sich vielfach übermalen, aber nur selten tilgen ließ. Auf der Bühne fing er ganz anders an. Aber im Kino stellt sie einen Instinkt dar, dem er vertrauen könnte; erst recht in ernsten Rollen. Mit Marcello kam immer eine eigene Perspektive auf das Tragische ins Spiel: die Wette, wie viel Gravitas sich aus dem Leichten schöpfen lässt. Das spürt man in den Zeitbildern von Luciano Emmer, in denen er anfangs regelmäßig auftrat, und auch in den zahlreichen Komödien, in denen er der Partner von Sophia Loren war. Spätestens ab »La Dolce Vita« handelt sein Werk vom modernen Terror der Zerstreuung. Diese Wette führt ihn auch in düstere, verzweifelte Sphären, bei Antonioni, Elio Petri und erst recht Valerio Zurlini. Er versteht genau, was da mit seinen Figuren passiert, der Verrat an den Idealen, die Unzulänglichkeit, der Schmerz.
Ich vermute, die Begegnung mit großen Regisseuren hat er stets als eine Prüfung begriffen, durchaus wie ein Schuljunge, der sich seiner Qualitäten nicht sicher ist und dennoch auf die Bewährung hofft. Er tritt ihnen entgegen als ein Erwachsener, der sich eine Kindlichkeit bewahrt hat. Sein Beruf ruht in einem ursprünglichem Spieltrieb. Vielleicht behauptete er deshalb, er sei eigentlich faul. Das ist keine kokette oder törichte Selbsteinschätzung, wenn man fast 150 Filme gedreht hat. Eher schon ein Indiz für die Gründlichkeit, mit der er träumte. Kinder wissen, wie ernst das Spielen werden kann.
Sein Beruf war ihm rätselhaft, er erstaunt ihn jedes Mal. Es genierte ihn nicht, ihn auszuüben. Er erschien ihm nicht unmännlich wie beispielsweise Burton oder Mitchum, deren Selbstverleugnung ja letztlich doch kindisch und anmaßend war. Sein Wunsch, aus dem eigene Leinwand-Image zu verschwinden, war keiner Verlegenheit geschuldet, wohl aber einer Demut, die sich Rechenschaft ablegen wollte über das Mischungsverhältnis zwischen Illusion und Identität. Das bedeutete keine Hemmnis. Marcello spielte aus Abenteuerlust, denn er spürte, es gab viel zu entdecken, wenn man sich in einer Rolle verbarg und offenbarte. Die Magie des Kinos ging für ihn noch darüber hinaus, sie war eine Frage der Konstellationen. Die Begegnung mit Regisseuren, Autoren, PartnerInnen und Teams empfand er als ein Terrain der Berührbarkeit. des Austauschs. Diese Haltung entstand womöglich auch aus familiärer Anschauung: Sein Bruder Ruggero war einer der besten Schnittmeister des italienischen Nachkriegsfilms.
Seine Figuren mögen sich oft selbstgewiss geben, aber ihr Darsteller musste es nie sein. Dann überzeichnete er sie, manchmal bis hin zur Karikatur, ohne deren Bodensatz an Verletzbarkeit und Naivität je zu verdrängen. Dann buhlte er nicht um die Zustimmung des Publikums, versicherte ihm mit keinem Augenzwinkern, dass er tatsächlich natürlich viel schlauer sei als seine Charaktere. Die Komplizenschaft, die er von der Leinwand aus in den Kinosaal hinein herstellte, war umfassender, sie schürfte tiefer. Sie trug die Züge einer einzigartigen Verwandtschaft. Ich habe ihn immer als den älteren Bruder betrachtet, den ich manchmal beneidete und um den ich mir oft genug Sorgen machte. Er konnte ein Schlingel sein, aber er enttäuschte mich nie. Bei ihm passiert mir etwas, das mit Cary Grant, John Wayne, Iwan Mosschukin, James Mason und Lino Ventura undenkbar ist: Wenn ich an ihn denke, dann zuallererst beim Vornamen. Marcello besaß die Gabe, dass man mit ihm fühlte.
Dass es mir niht allein so ergeht, bestätigt eine Anekdoten, die John Boorman einmal erzählte. Sie hatten 1969 zusammen »Leo, der Letzte« gedreht (der bizarr genug ist, um die Abenteuerlust des Schauspielers unwiderruflich zu belegen) und er besuchte ihn in der Pariser Wohnung, in der er damals zusammen mit Catherine Deneuve lebte. Als sie in die Küche ging, um den Nachtisch zu holen, flüsterte ihm Marcello flehend zu: „She is so cold.“ Er ist zusammen mit der meistbegehrten Frau der Welt, staunte Boorman, und trotzdem schafft Marcello es, dass man ihn bemitleidet.
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