Euphorische Skepsis
Hat er sich inzwischen durchgesetzt, wie Thierry Frémaux im Vorwort dieses großartigen Buches schreibt? Ich bin nicht sicher, ob Claude Sautet dieser Status gefallen hätte. Dazu ging er viel zu streng mit seiner Arbeit ins Gericht: Sein Kino ist ohne Zweifel und Vorbehalt nicht zu haben. Das spürt man in jedem der Gespräche, die Michel Boujut mit ihm geführt hat und die nun in deutscher Übersetzung unter dem Titel "Regisseur der Zwischentöne" vorliegen.
Selbst Sautets Genugtuung über das Gelingen ist meist von Skepsis getrübt. Er war nicht fertig mit seinen Filmen, er schnitt sie ja bis zu seinem Tod immer wieder um. Ein schwebendes Verfahren also, das sich regelmäßig zur Neuvorlage empfiehlt. Aber kehren wir noch einmal zu Frémaux' Vorwort zurück, das leise (und gar nicht so großsprecherisch, wie man es vom Cannes-Zampano erwartet) einstimmt auf die folgenden Zwiegespräche, die ihm wie ein Kammerspiel vorkommen, ein Flüstern gar. Sautets Filme, »Die Dinge des Lebens«, »Das Mädchen und der Kommissar« und die anderen, haben für ihn Bestand. Allerdings sind sie ein Zankapfel geblieben. "Lieben oder Hassen", schreibt er, "so funktioniert die französische Filmkritik in ihrer Tradition des systematischen und endgültigen Denkens".
Ich denke, es war ein großes Glück, dass Sautet nicht dazugehörte. Von den Kapellen, in die sich das französische Nachkriegskino aufspaltet, ließ er sich nicht mühelos vereinnahmen. Mit dem Klüngel der Nouvelle Vague hatte er wenig zu schaffen. Bei deren Parteiorgan "Cahiers du cinéma" konnte er zeitlebens keinen Stich landen. Dabei war der ehemalige "Cahiers"-Autor Francois Truffaut hellsichtiger als seine Nachfolger: Er nannte Sautet den französischsten aller Regisseure und rühmte die Lebenskraft, die man in seinem Werk spürt. Nun hat die Neue Welle zwar als einzig gültiges Paradigma ausgedient, nicht aber als Vorbild und Deutungsmodell. Für seine Gegner ist Sautet nach wie vor Vertreter eines doppelt anrüchigen, weil bürgerlichen Mainstreamkinos. Es ist ihnen nicht geheuer, dass er keinem Zeitgeist nachgeben wollte. Das große Publikum hingegen begeisterte sich für seine atmosphärischen Innenansichten der Bourgeoisie und die Genauigkeit seiner Beobachtungen ließ auf eine Komplizenschaft schließen, die ihn verdächtig machte. Unlängst las ich ein Interview mit der Schauspielerin Emmanuelle Devos, die berichtet, wie verschrien er einst im Kreis um Arnaud Desplechin war, der ihn einen rechten Filmemacher schimpfte. Im Licht seiner seitherigen eigenen Filme würde Desplechin diese Schmähung wohl nicht mehr aufrecht halten. Für seinen Kollegen Xavier Giannoli hingegen sind Sautets Gespräche mit Boujut eine Bibel.
In die Erstausgabe hatte ich seit ihrem Erscheinen 1994 nur punktuell hineingeschaut. 2014 erschienen die Gespräche in einer um ein Kapitel zu »Nelly und Monsieur Arnaud« (leider ziemlich zusammengestoppelt) ergänzten Neufassung, mit zusätzlichen oder ausgetauschten Texten als Bonusmaterial. Diese Version ist die Vorlage der deutschen Ausgabe. Die Übersetzung von Marcus Seibert ist gewandt - es ist die erste von ihm, bei der ich nicht den Drang verspürte, argwöhnisch ins Original zu schauen. Seine zahlreichen Anmerkungen, die historische Kontexte oder literarische bzw. filmische Verweise erklären, sind wertvoll.
Ich las das Buch jetzt anders als vor 25 Jahren, - nicht nur, weil ich einiges vergessen hatte und neu entdecken konnte. Beispielsweise Sautets Schuldgefühl, während der deutschen Besatzung nichts über die Shoah gewusst zu haben. Oder die Abwägung, dass der Herzinfarkt eines der Protagonisten von „Vincent, Fracois, Paul und die anderen“ viel stärker ist als der Selbstmord in der Romanvorlage. Sautets Essay über Thema und Konstruktion fand ich damals furchtbar abstrakt, heute begreife ich, dass er von der Musikalität seines Kinos handelt. Soll man das Buch zwei Jahrzehnte nach seinem Tod also als ein Vermächtnis betrachten? Aber hier spricht keiner, der sein Haus bestellen will, sondern sich fragt, weshalb er es so und nicht anders gebaut hat. Auch in Sachen Selbstkritik ist Sautet Perfektionist. Schonungslos offenbart dieser eminent diskrete Mann sich dem befreundeten Kritiker. (Nur über seine Arbeit als script doctor für befreundete Kollegen schweigt er: aus Angst vor dem Finanzamt.) Die Zwei kennen sich gut. Ein Running gag zwischen ihnen ist der Regen, der aus keinem Sautet-Film wegzudenken ist. Auch darin sind die Gespräche eine formidable Sommerlektüre.
Boujut arbeitet Sautets Philosophie des Filmemachens und die Wechselfälle seiner Praxis prägnant heraus. Immer wieder drängt es den Regisseur, sein Kino zu erneuern. Seine Ansprüche sind hoch und einzigartig. Der feinsinnige, robuste Stilist sucht nach der unbedingten Genauigkeit: des Ausdrucks, der Beobachtung. Sautet zeigt sich als ein ungeheuer reflektierter Filmemacher, der nur eben nicht vordergründig sein Medium reflektiert (diesen dankbaren Kritikerköder legt er nicht aus), sondern das Leben und die Gesellschaft. Er befragt sich selbst, so scharf wie die Bourgeoisie in seinen Filmen. Einige der Antworten kann man in Stein meißeln. Über die Schauspielerführung: Sie bedeute, "sie mit ihrem Einverständnis zu manipulieren." Über die Ambivalenz: "Wie eine Frage ohne Antwort, die mich beruhigt." Über schließlich über den Ausgang seiner pessimistischsten Filme: "Man muss den Figuren noch eine Chance geben."
Seine Zweifel sind hehr und hartnäckig. Aber er ist kein Zauderer, der sich von ihnen lähmen ließe. Die Vokabeln Schwung und Euphorie fallen überraschend oft in diesem Buch. Zuweilen kann man er sich auch das Gelingen eingestehen. Einmal erzählt er von einer Szene aus »Eine einfache Geschichte«, in der Romy Schneider nach dem Schwimmen im Garten auf einer Liege döst: "Sie ist nicht traurig, nicht heiter, eine Einstellung, von der ich immer geträumt habe." Natürlich will man sie sofort anschauen. Aber das passiert ohnehin ständig beim Lesen dieser Dialoge, die eine Schule des Sehens sind.
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