Energie
Bei meinem ersten Kinobesuch nach glimpflicher Zwangspause wollte ich vor einer großen Leinwand sitzen. Und welcher Film es sein sollte, stand schon lange fest: »Licorice Pizza« in 70mm. So kam es dann auch, aber ganz anders, als erwartet.
In Berlin zeigt das Delphi den neuen Film von Paul Thomas Anderson in diesem Format; hoffentlich sind bundesweit noch weitere Kinobetreiber auf diese Idee gekommen. Das Delphi heißt so, weil es während der Welle der Sandalenfilme eröffnet wurde. So hat es mir zumindest einmal ein Genre-Spezialist erzählt. Aber tatsächlich ist es bereits seit 1949 ein Kino. Auf jeden Fall verfügte es seinerzeit über die größte Leinwand und modernste technische Ausrüstung in Berlin. An große Epen ist es gewöhnt.
Das ist Andersons Film auf Anhieb nicht, eher ein intimes, gleichsam ein verschworenes. Warum also 70mm? Zuletzt wurden »Dunkirk«, »Mord im Orient Express« und »Tenet« in dem Format gedreht, spektakuläres Ausstattungskino also, das mit Aufwand und verblüffenden Schauwerten prunkt. Das könnte man auch über »Licorice Pizza« sagen, aber erst nach einigem Nachdenken. Gedreht hat er ihn nicht in diesem Format, sondern auf 35mm und hat ihn danach vergrößern lassen. So verfuhr er auch 2017 bei »Der seidene Faden«, der meines Wissens aber bei uns nicht in diesem Format lief. Sein letzter waschechter 70mm-Film war »The Master«, über den seinerzeit eine Kollegin sagte, deshalb habe man auch nicht gemerkt, dass er eigentlich ziemlich leer sei und sich großspurig gäbe. Das Format verleiht, wie in seiner großen Epoche zwischen 1955 und 1970, einem Film also Gewicht; erst recht, da es völlig aus unserer digitalen Zeit fällt.
Damals wurde es wegen der Schärfe und Brillanz geschätzt, da der Filmstreifen dreimal so viel Bildinformationen wie ein normaler enthält. Davon war bei »Licorice Pizza« auf den ersten Blick nichts zu merken, im Gegenteil: Ich hatte das Gefühl, ich säße vor der falschen Kopie. Aber er besitzt das Zweite. ohne das Erste zu sein. Die Konturen sind weich und schimmernd, wenn auch nicht unbedingt verschwommen. Ein weiteres Verkaufsargument für 70mm war seinerzeit der satte räumliche Klang. Der Ton ist sehr hart in »Licorice Pizza«, vor allem in der zweiten Hälfte. Was ich zunächst bemerkte war, dass ich einen Film auf Zelluloid sah, zum ersten Mal seit langer Zeit.
Es herrscht ein Vibrieren in den Bildern, dem wir fast schön völlig entwöhnt sind. »Licorice Pizza« ist die Antithese zur digitalen Schärfe und Brillanz. Seine Ästhetik ist nicht steril, sondern unsauber. Das 70mm zielt nicht auf Nachbesserung, sondern auf ein merkwürdiges Bewahren. Es holt die Grobkörnigkeit zurück, die uns einmal vertraut war. Anderson, der auch sein eigener Kameramann ist, rekonstruiert den Look, den Filme in der Zeit hatten, in der die Handlung spielt: verwaschen, mit bisweilen heftig aufblitzendem Gegenlicht, unordentlich, rastlos. In den Totalen muss nicht jedes Detail klar und sichtbar sein, der atmosphärische Zugriff genügt. Das New Hollywood der frühen 1970er hat ja viel vom Dokumentarfilm übernommen in seiner Vision von Urbanität, Gegenkultur und Isolation. Ich vermute, Anderson und sein Team haben beispielsweise "American Graffiti" genau studiert.
Das Südkalifornien, das Anderson in seinem neuen Film zeigt, unterscheidet sich radikal von dem pastellfarbenen in »Punch-Drunk Love« und dem bizarren in »Inherent Vice«, der etwa in der selben Epoche spielt. Der Film springt einen von der Leinwand an, mit einer Unmittelbarkeit, die ich auf keinen Fall immersiv nennen möchte. Er ist oft extrem nah an den Gesichtern, die Pickel im Gesicht von Cooper Hoffman scheinen sich von Szene zu Szene wundersam zu vermehren, und ein vernünftiger Casting director hätte ihn und Alana Haim gewiss erst einmal zu einem Zahnarzt geschickt. Anderson widersetzt sich einem aktuellen Schönheitsdiktat und hat dabei die Epoche wiederum auf seiner Seite. Das New Hollywood besetzte gern Leinwandneulinge, zumal Popstars. Es war neugierig auf andere Gesten, ein anderes Charisma. In »Licorice Pizza« erweckt niemand den Eindruck, er oder sie trete in einem Gegenwartsfilm auf. Anderson holt manch verlorene Freiheit zurück; auch die, unperfekt zu sein.
Das spürt man in 70mm genauer. Ich hatte, ganz banal, das Gefühl, mehr zu sehen. Es ist auch hier ein Format des Reichtums. Es trägt die Figuren stärker, es elektrisiert sie noch mehr. Die Charaktere sind nicht so obsessiv wie sonst bei Anderson. »Licorice Pizza« wirkt gelöster. Aber sie agieren dennoch manisch, sind sprunghaft, wankelmütig und unberechenbar, sie stecken voller verrücktem Elan, einer schwungvollen, freundlichen Aggressivität. . Man spürt, ihr Regisseur ist ein cinéphiler Romantiker, dem alles möglich erscheint, der nichts ausschließen will. Die Art, wie seine Figuren die 1970er Jahre erfahren, ist nicht entrückt, sondern hautnah. Sie besitzen eine Lebhaftigkeit, die ich verstehen und gut gebrauchen konnte.
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