Ein Werkzeugkasten
Ein Sequel zur »Hausmusik«: wiederum ein kurzer Lockdown-Film auf MUBI; wiederum findet ein kreatives Gipfeltreffen an verwunschenem Ort statt, bei dem eine überlieferte Form erneuert wird; wiederum treten Konvention und Freiheit in Wettstreit und kündet eine Stimme von weiblicher Ermächtigung.
Im Gegensatz zu »Terminal North« läuft Pedro Almodóvars »The Human Voice« allerdings hier nicht exklusiv, sondern wird auch von anderen Streamingdiensten angeboten. Bisher war es nicht ganz einfach, ihn zu sehen zu bekommen. In Spanien lief er regulär in den Kinos, anderswo aber nur an einem Tag – in Deutschland beispielsweise am 14. November, dem "European Arthouse Cinema Day". Ich hatte zwischenzeitlich schon überlegt, mir die französische DVD zu holen (andererseits: ein halbstündiger Film zum vollen Preis?). Nachdem ich ihn nun gesehen habe, werde ich mein Zögern wohl revidieren. Indes, vielleicht sollte ich noch einen Moment abwarten, ob er nicht zusammen mit Roberto Rossellinis »La voce umana«, der ersten Verfilmung von Jean Cocteaus »Die menschliche Stimme« herauskommt – oder, was nicht weniger nahe liegt, mit Jacques Demys halblanger Adaption von Cocteaus »Der schöne Gleichgültige«. In beiden Fällen wäre die Rechtelage sicher ein wenig kompliziert, aber Cocteaus theatraler Einhandsegler handelt ja von der Hoffnung; wenngleich einer verzweifelten.
Für Almodóvar hat »The Human Voice« mehrere Vorgeschichten. Einerseits lieferte das Monodrama eine maßgebliche Inspiration für „Das Gesetz der Begierde“ und „Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs“. Zugleich machte er sich mit dem Film wohl auch Mut, bevor er endlich seinen ersten englischsprachigen Langfilm in Angriff nimmt, die Adaption von Lucia Berlins Kurzgeschichtensammlung »Manual for Cleaning Women« mit Cate Blanchett. (Wie bei Lucretia Martel folgt übrigens auf die erste Fingerübung noch eine zweite, ein halbstündiger Western mit Ethan Hawke und Pedro Pascal.) Und mit Tilda Swinton wollte er zweifellos schon lange zusammenarbeiten. Ein Lückenfüller ist »The Human Voice« mitnichten. Eigentlich sollte ich auch den Begriff „Fingerübung“ schleunigst zurücknehmen, halte aber noch eine Weile an ihm fest, weil der Film die Anmutung eines souveränen Experiments hat. Eine Wette, alles in allem.
Wie meist bei Almodóvar besteht sie erst einmal in der Frage, wie heutig das Melodram überhaupt noch sein kann. Auch diesmal kann ich sie mit einem entschiedenen "Ja!" beantworten. Das gilt auch für die Situation des Stücks. In Zeiten, wo sich Paare per SMS trennen und alle Welt mobil zu erreichen ist, besteht für die Protagonistin eigentlich kein praktischer Grund mehr, in ihrer Wohnung auf den Anruf ihres Geliebten zu warten, der sich von ihr trennen will. Jedoch ist der Schauplatz elementar für den Film. Nach einem kurzen Prolog, der im wahrscheinlich kundenfreundlichsten Baumarkt der iberischen Halbinsel spielt, trägt er sich vollständig und erkennbar in einem Dekor zu, das in einem Studio errichtet wurde. Es ist, noch vor dem Geliebten und dem Hund, den er ebenfalls verlassen wird, der zweite Protagonist des Films. Das Dekor ist sorgfältigst drapiert; es erzählt von Jahren des Wartens. Die Frauenakte an den Wänden, von Artemisia Gentileschi und Vargas, verweisen auf eine männliche Präsenz, die hier heimisch werden sollte, sich aber jetzt verabschiedet. Auf die Schublade voller Medikamente folgt der Blick auf den Coffee table, der zeigt, wie sich die Frau die Zeit vertrieb – sehr anspruchs- und espritvoll, mit Alice Munro, Truman Capote und Fitzgeralds »Zärtlich ist die Nacht«, mit Douglas Sirk. »Kill Bill« und »The Pantom Thread« (Der seidene Faden). Bei solchen Gelegenheiten offenbaren Filmemacher gern ihre eigenen Vorlieben. Das ist bestimmt auch hier der Fall. Aber je mehr man über die Auswahl nachdenkt, desto mehr erzählt sie von der Seelenlage der kultivierten Bewohnerin. Dieses Dekor füllt nicht nur im konkreten Sinne der Studiosituation eine Leere. Von ebenso graphischem wie metaphorischem Raffinement ist bereits der Vorspann. Die Titel sind aus lauter Werkzeugen zusammengesetzt: Der Filmemacher legt seine Instrumente offen.
Cocteaus Stück ist ein Lackmustest. Es bietet seit jeher Anlass, über das Verhältnis zwischen Regie und Darstellerin zu reflektieren. Was wiegt mehr, Hingabe, Vertrauen, Freiheit oder Komplizenschaft? Swinton und Almodóvar sind ein exquisites Gespann. Ihr gegenseitiger Respekt schlägt Funken. Sie lesen Cocteau neu. Es geht natürlich um Sehnsucht, aber mehr noch um Einsamkeit und Schmerz. Anna Magnani zeichnet bei Rossellini eine ansteigende melodramatische Linie. Sie wirkt anfangs relativ nüchtern und bodenständig – Tränen fließen erst nach der Hälfte -, um dann zusehends panischer auf die Unterbrechung der Verbindung zu reagieren. Ein Kreuzweg, den die Kamera in beweglicher Nähe begleitet, die Erkundung des Schauplatzes findet stets im Bezug auf sie statt, während die Tonspur lebhaft von Nachbarschaft und Urbanität kündet. Swinton und Almodóvar spielen offensiv mit dem Klischee britischer Beherrschtheit, sie kaschieren die ansteigende Linie dezent. Ihr Film ist keine Tour de force, sondern folgt einem Wechselrhythmus der Nuancen, auch die Ironie hat in ihm leises Hausrecht. Die Zwei nehmen sich agile Freiheiten mit der neunzigjährigen Vorlage. Bei der Katharsis kippt alles um, brüsk und schlüssig. Cocteau wäre begeistert, wie furios der Film sein Stück verrät.
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