Die Spritztechnik-Schule
Es geht alles so rasend schnell in »The French Dispatch«! Die Wes-Anderson-Maschine läuft auf Hochtouren. Sie verlangt äußerste Konzentration. Pointen rauschen in Kaskaden am Publikum vorüber. Nur einmal geblinzelt, und schon hat man den Auftritt eines berühmten Darstellers verpasst. In einer Sekunde Léa Seydoux ist noch als elastisches Aktmodell zu sehen, in der nächsten trägt sie schon wieder ihre züchtige Uniform.
Den flinken Wechsel zwischen Farbe und Schwarzweiß bekommt man noch mit, aber den zwischen verschiedenen Bildformaten vielleicht schon nicht mehr. Anderson geht verschwenderisch mit seinen Attraktionen um. Er hat ein diebisches Vergnügen an der Reizüberflutung. Manisch greift er in seine erzählerische Schatztruhe, als sei sie bodenlos. Es ist zu viel des Guten. Zu diesem embarrassment of riches zählen die Bilder, die Benicio del Toro (alias Moses Rosenthaler) in der Episode »Das Beton-Meisterwerk« von Seydoux (alias Simone) malt. Trotz des atemlosen Tempos prägen sie sich ein: als ein abstrakter, aber überaus fleischiger Tumult. Ihre Farbigkeit tritt bei Wechsel zum Monochrom unvermindert lebhaft hervor.
Am Wochenende konnten wir die Zeit ein wenig anhalten. Eine Freundin schlug den Besuch der Galerie Ebensperger vor, die noch bis Mitte des Monats die Ausstellung "The Rosenthaler Suite" zeigt. Sie gewährt keinen Blick ins Atelier von del Toro, sondern das von Sandro Kopp, der ihm für den Film seine Arme und Hände und vor allem sein Talent ausgeliehen hat. Für einen Sekundenbruchteil tritt er in »The French Dispatch« auch auf: als Mitglied der "Französischen Spritztechnik-Schule", die Rosenthaler begründet hat. Beide, der Künstler und sein Double, können offenbar von Simone nicht lassen: In der Schau sind nicht nur Bilder zu sehen, die während der Dreharbeiten entstanden, sondern auch danach, im schottischen Nairn, wo der in Heidelberg geborene Maler mit seiner Lebensgefährtin Tilda Swinton lebt, die bei Anderson (als J.K.L.Berensen) über Rosenthaler schreibt und doziert.
Das Paar lernte sich bei Dreharbeiten zur Narnia-Saga kennen. Seither musste der Maler nicht allzu oft von der Seite der vielbeschäftigten Schauspielerin weichen. In verschiedenen Funktionen hat er an vielen ihrer Filmen mitgewirkt, meist als Kleindarsteller und Standfotograf; die IMDb führt ihn zudem als ihren Assistenten bei »Julia« auf, für den er auch ihre Tätowierungen entwarf. Wofür wird ihm wohl im Abspann von »Snowpierecer« gedankt? Bei »Moonrise Kingdom« arbeitete Kopp schon einmal mit Anderson zusammen. Er gestaltete den Umschlag eines der Bücher, die Suzy ("I like stories about magic powers") aus der Bücherei stibitzt hat. Welches der sechs mag es sein? Auch sie sind nur für ein paar Sekunden zu sehen, öffnen aber ein Fenster in eine je eigene Welt. Ihre Titel sind verheißungsvoll ("Disappearence of the 6th Grade") und die Cover in der Ästhetik des imaginären 1965 gehalten, in dem der Film spielt. »The Girl from Jupiter« etwa mutet wie ein zeitgenössischer Fantasyroman an (in einem Stil, den die Scientology-Broschüren inzwischen vereinnahmt haben); meine persönlichen Favoriten sind »The Light of Seven Matchsticks« und »The Return of Auntie Lorraine«.
Die enthusiastische Mitarbeiterin der Galerie, die uns begrüßte, ergänzte die Angaben der IMDb noch und erklärte, für »Suspiria« habe Kopp einige Requisiten gestaltet. Zum Beweis öffnete sie die Tür zu einem Abstellraum, in dem ein Porträt hing, das Swinton neben einer zweiten Ballett- bzw. Hexenmeisterin zeigt. Sie berichtete, wie Kopp das imposante Quadriptychon (bei dieser Wortfindung war die Dame uns ebenfalls behilflich) vor Ort in der großen Halle gemalt hatte; die Performance muss ein ganz außerordentliches Erlebnis gewesen sein. Das hatten wir verpasst. Aber ihre Begeisterung war dennoch ansteckend.
Die Galerie (www.ebensperger.net) ist ebenso wie das Silent Green, über das ich im letzten Sommer zweimal schrieb, im früheren Krematorium in Wedding angesiedelt. Wie im Silent Green spielt auch hier der Ort atmosphärisch mit. Die große Abschieds- und Trauerhalle gibt dem Quadritychon monumentalen Raum. Die übrigen Bilder sind im Keller gehängt, dessen niedrigen, kahlen Wände hervorragend zu Rosenthalers Gefängniskunst passen. In zwei zellenartigen Räumen hängen weitere "Simone"-Varianten. Der Charakter des Seriellen ist für die Suite maßgeblich, jedes Einzelbild fungiert als Variation über ein Thema. Aber die Wirkung der Bilder verändert sich radikal, wenn man sie aus der Ferne oder aus der Nähe betrachtet. Filmmetaphern sind ohnehin kein schlechter Führer durch die Ausstellung: der Wechsel zwischen Totaler und Nahaufnahme; einige Bilder sind Outtakes, andere gewissermaßen als Nachdreh entstanden.
Ihre Wirkung entfalten sie indes auch, ohne dass man »The French Dispatch« gesehen hat. Kopp kommt eigentlich aus der figurativen Malerei, ist insbesondere bekannt für seine Skype-Porträts, die im Frühjahr im Mannheimer Kunstverein ausgestellt werden. Verbiegen musste er sich nicht für Wes Anderson. Mein erster Eindruck war: Hinter der Abstraktion ist ein Drang zum Gegenständlichen zu spüren, den er bezähmt. Ich stellte mir vor, er habe zuerst Konturen gemalt, Gesichter, Gestalten, Gliedmaßen, die sich dann in einen Wirbel der Farben auflösen, aber nicht völlig verschwinden. Es sind lauter Töne, die in der Bildenden Kunst aktuell womöglich gar keinen so guten Leumund haben, Orange, Rosa, leuchtendes Rot. Die Assoziation zu Fleisch ist unausweichlich. Das Malerische und das Gestische finden zusammen als zwei Aspekte einer schwungvollen, leidenschaftlichen Unruhe. Mitunter hat er die Farben so dick und satt aufgetragen, dass man die Leinwand unbedingt berühren will. Diese haptische Verlockung führt natürlich, aber nicht zwangsläufig zum Amour fou von Moses und Simone zurück. Der schlitzohrige Kunsthändler Julian Cadazio (Adrien Brody) hätte seine helle Freude an diesem sinnlichen Überfluss. Erst recht, wenn er erfahren hätte, dass Rosenthalers Meisterwerk gar nicht auf Beton gemalt wurde, sondern höchst beweglich ist.
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