Transgenre
„Titane“, der heute in unseren Kinos anläuft, ist ein verwegener Ritt. Er missachtet fast alle Stoppschilder und hängt sämtliche Konventionen ab. Julia Ducournau wirft einen Blick unter die Kühlerhaube des Lebens, der sensibleren Naturen schwer zuzumuten ist. Die Mordszenen sind noch dann unerträglich, wenn der Schrecken außerhalb des Bildes liegt; die Tonspur ist suggestiv genug. Ducournaus Erzählimpuls ist die Grenzüberschreitung: der Geschlechter und der Genres, was im Französischen ein und dasselbe ist.
Ihre Protagonistin ist eine Figur, die keine Einfühlung zulässt. Sie fordert sie auch nicht. Die Autoerotiker in David Cronenbergs „Crash“ (der einem unweigerlich einfällt, aber als Vergleich nicht weit führt) bildeten immerhin noch eine verschworene Gemeinschaft, fanden Zugehörigkeit als Gegenkultur. Aber Alexia steht, zumindest im ersten Teil des Films, allein für sich. Ihre Abstoßung der menschlichen Gesellschaft ist mörderisch. Stattdessen fühlt sie sich zum Metall von Automobilen hingezogen. Sie werden gewiss schon gelesen haben, wohin das führt: Sex mit einem Boliden, nach dem sie schwanger ist und ihre Körperflüssigkeiten durch Motorenöl ersetzt werden.
Hier zu Lande hätte ein solch irrsinniges Drehbuch in den Fördergremien keine Chance. Das französische Filmzentrum CNC hingegen hat 2018 ein spezielles Programm für Genres aufgelegt, die im heimischen Kino unterrepräsentiert sind, Horror, Science Fiction, Fantasy, auch Musicals. Im ersten Jahr war Ducournau Präsidentin der Jury, die über die eingereichten Drehbücher entschied. Neben dieser institutionellen Abstützung gibt es auch eine private Initiative: Seit 2017 fördert Thierry Lounas, Leiter der Produktionsfirma Capricci sowie Chefredakteur der Zeitschrift „So Film“, mit Aufenthaltsstipendien die Entwicklung von Drehbüchern. , Die Menge der Bewerbungen war und ist in beiden Fällen enorm. Das Bedürfnis, sich dieses Terrain kreativ zu erschließen, ist offensichtlich groß.
Die Genres des Fantastischen - ich lasse SF und Musical in dieser Betrachtung mal aus Gründen der Übersichtlichkeit außen vor – haben eine lange, aber zwischendurch immer wieder erloschene Tradition; sie reicht von Georges Méliès, Jean Epstein und Germaine Dulac im Stummfilmkino bis zu Jean Cocteau, Marcel L'herbier und Georges Franju im Tonfilm. Ab den 1960ern wird sie nur sporadisch fortgeführt, von da an steht das französische Kino in der (inter-)nationalen Wahrnehmung vorrangig für Komödie, Krimi und Autorenfilm. Um die Jahrtausendwende ändert sich das ansatzweise, nicht zuletzt, da es einschlägige Festivals und Messen gibt, die ihr eigenes Publikum haben und kultivieren. Die Aufmerksamkeit, die beispielsweise „Martyrs“ von Pascal Laugier 2006 erhielt, schien einen Wendepunkt zu markieren. Mit dem kommerziellen Erfolg von „Der Pakt der Wölfe“ und „Die purpurnen Flüsse“ kam das Fantastische auch wieder im Mainstream an, beide blieben aber künstlerisch und ökonomisch erstaunlich folgenlos.
Wie die kontinuierliche Blüte des Horrorfilms in England (zumindest historisch, aber auch Hammer hat sich ja zurückgemeldet vor einiger Zeit), Spanien und den USA zeigt, braucht es dafür auch industrielle Strukturen. Die großen französischen Konzerne Gaumont und Pathé bieten sie nur ausnahmsweise an, weshalb ein Spezialist wie Alexandre Aja sich entschloss, sein Heil in Amerika zu suchen. Im letzten Frühjahr kündigten Wild Bunch (die als Produzenten, Weltvertrieb und Verleih kräftig mitmischen auf diesem Markt) und Capricci eine Kooperation an: eine gemeinsame Produktionseinheit soll sich auf diese Sparte konzentrieren. Die belgische Produktionsfirma Frakas ist zwar nicht aufs Genrekino spezialisiert, aber an bemerkenswert vielen Filmen beteiligt, darunter „Atlantique“ von Mati Diop (ich gebe zu, eine etwas gewagte Einordnung, aber doch ein naturalistischer Geisterfilm), „Sans Soleil“ von Banu Akseski und „Earwig“, dem neuen Film von Lucile Hadzihalilovic. Julia Ducournau hat die Firma praktisch von Anfang an, seit ihrem Kurzfilm „Junior“ (2011), bis „Titane“ begleitet. Der Erfolg, den der Film in Cannes und später an den heimischen Kinokassen hatte (er hat gerade die Marke von 300000 Zuschauern überschritten, ohne die Pandemie wären es wahrscheinlich 500000 geworden), wird diese Tendenz im französischen Kino bestimmt beflügeln.
Solche Entwicklungen kann man nicht an einem einzigen Film festmachen. Aber ich könnte mir vorstellen, dass Ducournaus erster Langfilm „Grave“ von 2017 (bei uns auf DVD als „Raw“ herausgekommen) mitverantwortlich dafür ist, dass sich das CNC ein Jahr später besonders für diese Sparte interessierte. Bereits „Grave“ eilte nach der Premiere in Cannes das Skandalon der Grenzerfahrung voraus (entsetzte, ohnmächtige, flüchtende Zuschauer etc.), was zahllose Festivaleinladungen weltweit und daheim immerhin 150000 verkaufte Kinokarten nach sich zog. Bei „Titane“ wiederholt sich gerade dieses Phänomen; in den USA ist der Film rekordverdächtig gestartet. Horror à la francaise erweist sich mithin als exportierbar. Ihm wohnt noch immer eine bestimmte Marginalität inne (die sich auch in ihren Figuren spiegelt, die in der Regel Außenseiter sind), aber randständig bleiben muss er nicht unwiderruflich. Dabei könnte allmählich auch die leidige Grenzziehung zwischen Genre- und Autorenkino verschwinden. Die verstärkte Präsenz auf hochkarätigen Festivals („Atlantique“ gewann 2019 in Cannes den Großen Preis) zeigt, wie sich die Wahrnehmung gerade wandelt. Die Rolle, die das Phänomen „Parasite“ (Goldene Palme, 1, 8 Millionen Zuschauer in Frankreich) dabei spielt, sollte man natürlich nicht unterschlagen.
Welche weitere Tendenz in Frankreich damit einhergeht, berichte ich morgen.
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