Schöpferisches Ungefähr
Auf Festivals hat man gelegentlich das Vergnügen, Stephen Frears nicht nur als Filmemacher, sondern auch als Kinogänger zu erleben. Als 1999 „The Hi-Lo Country“ im Wettbewerb der Berlinale lief, saß ich mal zwei Reihen hinter ihm. Anscheinend hatte er seine PR-Pflichten für den Tag erfüllt und abends Zeit, die Galavorführung von „Porgy and Bess“ im Zoopalast zu besuchen.
Er nahm einen Platz am Rand ein, den er notfalls früher verlassen konnte, ohne andere Zuschauer zu stören. Der Film lief im Rahmen der Otto-Preminger-Retrospektive. Gezeigt wurde die einzige noch existierende 70mm-Kopie, deren größter Makel darin bestand, dass es die deutsche Synchronfassung war. (Allerdings war es das erste Hollywoodmusical, dessen Songs nicht eingedeutscht, sondern untertitelt wurden.) Der Pressebetreuer des Verleihs, der neben ihm saß, wurde bald unruhig. Doch Frears wollte bleiben. Dass er die Dialoge nicht verstand, störte ihn offenbar wenig. Hegte er eine besondere Wertschätzung für Preminger? Dessen Vielseitigkeit jedenfalls konnte er sich nahe fühlen. Vielleicht amüsierte es ihn, dessen Regie unter diesen Bedingungen genauer studieren zu können? Oder genoss er einfach das Schauspiel auf der großen Leinwand? Das war von meinem Platz aus natürlich schlecht einzuschätzen. Aber es bereitete mir große Genugtuung, dass Frears heroisch lange aushielt, bis er schließlich dem Drängen seines Betreuers nachgab.
Für einen ausgesprochen cinéphilen Regisseur hatte ich den Engländer, der heute seinen 80. Geburtstag feiert, bis dahin nicht gehalten. Auf keinen Fall schien er derart von der Filmgeschichte besessen zu sein wie Martin Scorsese, der Co-Produzent seines damaligen Wettbewerbsbeitrags. Andererseits hatte „The Hi-Lo Country“ einen bemerkenswerten cineastischen Stammbaum: Er beruht auf einem Roman, den Sam Peckinpah bereits seit 1965 verfilmen wollte, das Drehbuch stammte von Walon Green, der auch „The Wild Bunch“ geschrieben hatte. Dass er eine Hommage gedreht haben könnte, scheint mir wenig plausibel. Die majestätischen Kranfahrten und Panoramen der Landschaft von New Mexico, das balladenhaft entspannte Erzähltempo sowie die Nachsicht mit der Rauflust seiner jungen Helden legen vielmehr nahe, dass er eine Wette eingehen wollte mit den Konventionen des Genres: Wann kommt ein englischer Regisseur schon mal in die Verlegenheit, einen Western zu drehen?
Er hat sich an praktisch jedem Genre versucht, nur Science-Fiction, Fantasy und Horror („Mary Reilly“ deutet den Jekyll&Hyde-Mythos aus bemerkenswert aufgeklärter Perspektive) haben ihn bislang nicht gereizt. Schon seine ersten Kinofilme, der ironisch-nostalgische Detektivfilm „Gumshoe“ und der lyrische Gangsterfilm „The Hit“, verraten seine Lust, bei der Inszenierung unterschiedliche Muskelpartien zu trainieren. „Gumshoe“ hätte mich eigentlich allerdings aufhorchen lassen müssen, denn der prunkt mit hartgesottenen Filmzitaten. War Frears also von Anfang an ein movie buff? Das wäre verwunderlich, denn eigentlich gehört er ja jener britischen Schule an, die beim Fernsehen den Respekt vor Stoffen und Autoren gelernt hat. Frears betrachtet die Regie als eine Disziplin unter anderen im Kino, die es zu beherrschen gilt. Ich vermute deshalb, sein Blick auf die Filmgeschichte ist pragmatisch: als Spielfeld inspirierten Handwerks. Den klassischen Kanon kennt er bestimmt genau. Er ist eben neugierig, wie seine Kollegen Geschichten erzählt haben. Diese Verbindung kann durchaus im Vagen bleiben, ein kreatives Ungefähr. Siehe Preminger.
Für arte hat Frears zum Kinojubiläum 1995 eine Dokumentation über das britische Kino gedreht, die mein Bild vielleicht korrigieren könnte. Wenn es mir gelingt, sie aufzutreiben. Carol Reed wird in der Sendung gewiss eine wichtige Rolle spielen, denn auf ihn bezieht er sich oft. Im Audiokommentar zu „Kleine schmutzige Tricks“ spricht er von dessen prägendem Einfluss, der ihm jedoch erst später bewusst wurde. Das London, das er hier zeigt, ist ganz anders als das Wien in „Der dritte Mann“. Aber den Aspekt des ethnischen Schmelztiegels haben beide Filme gemein; noch ausgeprägter ist er in Reeds „Voller Wunder ist das Leben“. Elmer Bernsteins tückisch heitere Melodie in „The Grifters“ erinnerte ihn an das Harry-Lime-Thema. Die Schlusssequenz von „Kleine schmutzige Tricks“, den wortlosen Abschied von Audrey Tautou und Chiwetel Ejiorfor am Flughafen, vergleicht er im Kommentar mit dem Finale von Hitchcocks „Berüchtigt“. Das kommt mir wie eine reichlich unerfindliche Assoziation vor, obwohl er sich gern beim Meister des Suspense bedient. Zur Vorbereitung auf „Gefährliche Liebschaften“ schaute er sich Billy Wilders Film Noir „Frau ohne Gewissen“ an. Das hat mich auch erst verblüfft, aber ist natürlich eine prächtige Idee, um sich auf Täuschung, Ranküne und Manipulation einzustimmen.
Der Film Noir könnte ohnehin sein bevorzugtes Erzählterrain sein. „Grifters“ ist insofern das pièce de résistance seiner Cinéphilie und, was vielleicht kein Zufall ist, zugleich Frears' Meisterwerk. „You really like B-Movies“ meinte sein Drehbuchautor Donald Westlake, als er die vielen Schattenwürfe von Stabjalousien im fertigen Film sah. Zu der Fahrstuhlszene, in der sich Anjelica Huston eindrucksvoll aus dem Film verabschiedet, inspirierte ihn der Schluss von „Die Spur des Falken“, dem Regiedebüt ihres kurz zuvor verstorbenen Vaters John. Besetzt hat er sie natürlich wegen dieser familiären Beziehung, sondern weil sie im Film eine unglaubliche Präsenz entwickelt. Frears' Zitate sind weniger präzise, als vielmehr ikonisch. Bei bei der Besetzung griff er ohnehin tief in die Schatzkiste der US-Filmgeschichte. J.T. Walsh und Charles Napier gehören gewissermaßen zur Folklore des Genrekinos. Den Hotelbesitzer spielt Henry Jones, der hier ebenso misstrauisch wirkt wie als Untersuchungsrichter in „Vertigo“. John Ireland hätte er auch gern gehabt, aber das klappte nicht. Annette Bening wiederum ließ ihn an die hard-boiled-Figuren denken, die Gloria Grahame einst spielte. Das konnte ich beim Wiedersehen des Films überhaupt nicht nachvollziehen. Bis mir einfiel, dass sie 17 Jahre später in „Film Stars don't die in Liverpool“ tatsächlich einmal Grahame verkörpert hat. Welch bewundernswerter Weitblick! Manche Regisseure sind eben klüger als ihre Kritiker.
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