Lust auf das Unerledigte
Wer seit Jahrzehnten Filmreihen zusammenstellt und dann an den Punkt kommt, wo es aufzuhören gilt, könnte leicht auf die Idee kommen, sich mit einem Programm von Lieblingsfilmen zu verabschieden. Aber diese Lösung war Corinne zu knifflig und vielleicht auch zu banal.
Statt dessen hat sie eine Wunschliste zusammengestellt, um Lücken zu schließen. Auf ihr stehen lauter Titel, die sie aus diversen Gründen immer wieder verpasst (oder eventuell auch vermieden) hat. Wie ich sie kenne, ist sie dabei gewissenhaft und akribisch ans Werk gegangen. Arbeitsethos und Lustprinzip halten sich die Waage in diesem hübschen Vermächtnis der Neugier. Sie nennt das Ergebnis „Corinnes Blind Dates“. Heute beginnt der Reigen der verblüffenden Verabredungen, auf die man sich offenen Auges einlassen darf.
Als ich hörte, dass Corinne Siegrist-Oboussier nun ihren Abschied als Leiterin des Filmpodiums Zürich nimmt, war meine erste Regung empörter Unglaube: Sie ist doch viel zu jung, um in Pension zu gehen! Kann in der eidgenössischen Bürokratie denn keiner rechnen? Aber vielleicht war ja meine eigene Zeitrechnung trügerisch. Sollte unsere Zusammenarbeit wirklich schon 16 Jahre gedauert haben? Wenn ja, vergingen sie im Flug.
Falls Sie langjährige Leser dieses Blogs sein sollten, werden Ihnen gewiss einige Hinweise auf das Programm des Filmpodiums (zuletzt im Juli auf die Reihe mit Highsmith-Verfilmungen) in Erinnerung sein. Dort wird seit jeher eine ideenreiche Geschichtsschreibung betrieben. An dieser Stelle schrieb ich selbstredend nur über Retrospektiven, zu denen ich keinen Text für die Programmbroschüre verfasst hatte. Aber wenn Corinne einen Einführungstext bei mir anfragte, waren das stets spannende, dankbare Aufträge. Sie führten manchmal weit zurück in die Filmgeschichte, bestanden zuweilen aber auch in einer Archäologie der Gegenwart (die Gelegenheit etwa, über Paolo Sorrentinos Karriere vor „La Grande Bellezza“ zu schreiben, erwies sich als kleine Wunderkammer der Entdeckungen). Corinne war nicht nur eine geduldige - bei einem Autor wie mir leider eine unverzichtbare Tugend -, sondern auch muntere Redakteurin der Texte. Als ich einmal einen rechtschaffen ambivalenten Essay zum Thema „Depardieu und die Frauen“ ablieferte, fragte sie sich erst „Mag er ihn überhaupt?“, las ihn dann aber ein zweites Mal und befand, dass dieser Zwiespalt auszuhalten sei. Ihre Vorbereitung war unweigerlich sorgfältig, sie schickte jeweils eine Liste der in der Schweiz verfügbaren Filmkopien (nebst Anmerkungen, ob und wann sie bereits im Filmpodium gelaufen und deshalb nicht unbedingt dringend waren). Es gab also immer auch ein rechnerisches Moment. Zugleich gab sie mir zu verstehen, dass ich bei der Auswahl mitwirken könne. Ein intensives Zusammendenken ergab sich zum Beispiel anlässlich einer Reihe über französische Komödien, die von Regisseurinnen inszeniert worden waren. Dazu hatte sie eine historische Erhebung unternommen, die zeigte, dass ihnen traditionell eher dramatische Stoffe angetragen wurden. Sie können sich vorstellen, wie wertvoll solche Vorarbeit ist. Wir wurden dennoch fündig für das Programm „Comédies en féminin“.
Dass ich an dieser Stelle über die Aktivitäten des Filmpodiums geschrieben habe - und es bestimmt auch weiter tun werde, denn Michel Bodmer nach wie vor dort und Corinne hat eine exzellente Nachfolgerin – bedeutet nicht, dass ich davon ausgehe, dieser Blog habe viele Leser in Zürich oder Umgegend. Entscheidender war, dass ich fand, die Reihen seien von allgemeinem Interesse und beispielhaft durchaus im Sinne von: machen hoffentlich Schule. Gleiches gilt für Corinnes Abschiedsretrospektive. Mit etwas Pathos könnte man sagen, sie mache sich und dem Publikum damit ein Geschenk. Aber das würde genauso wenig zu ihr passen wie die großspurige Vokabel „kuratieren“, die ich aus ihrem Mund nie gehört habe. Vielmehr ist es eine Gemeinschaftsarbeit, bei der Sachverstand und Kreativität von anderen unbedingt erwünscht waren - nicht nur die ihrer langjährigen Mitstreiter, sondern ebenso die von Schweizer Filmkennern wie Michael Sennhauser, ihrem Vorgänger Martin Girod und ihrem Mann Hansmartin Siegrist.
Was dabei herausgekommen ist, lässt tief blicken. Und weit. Es ist kein nachgeholter Kanon, sondern ein ungebundener Streifzug durch verschiedene Kinematografien und Epochen. Unter den ungekannten Lieblingsfilmen befinden sich zwar gestandene Klassiker („Ritt zum Ox-Bow“ von William Wellman, „Die Mörder sind unter uns“ von Staudte sowie „Schuhputzer“ von De Sica), aber pflichtbewusst wirkt die Liste mitnichten, sondern vergnügt hingetupft. Dass nur ein Stummfilm dabei ist („Erotikon“ von Mauritz Stiller), müsste auf Anhieb erstaunen, jedoch hat das stumme Kino einen alljährlich festen Platz im Filmpodium. Ich freue mich besonders, dass „Frühling in einer kleinen Stadt“ von Fei Mu und „Tod eines Radfahrers“ von Juan Antonio Bardem zu den „Blind Dates“ gehören. Auch „Kleine Vera“ ist eine hervorragende Wahl, denn Wassilij Pitschuls Tauwetterfilm hatte 1989 eine ungeheure internationale Ausstrahlung, ist seither aber leider unter den Radar der Aufmerksamkeit geraten.
„Un carnet de bal“ (Spiel der Erinnerung) war einmal der berühmteste Film eines meiner Favoriten, Julien Duvivier, den ich aber auch nie gesehen habe. Das britische Kino ist präsent mit der Ealing-Komödie „Einmal Millionär sein“ und „Die Brücke am Kwai“. Den in all der Zeit verpasst zu haben, ist schon eine Leistung. Das gilt natürlich auch für „Der weiße Hai“, der für mich neben „Catch me if you can“ nach wie vor der beste Spielberg-Film ist. Das Hollywoodkino holt Corinne ohnehin mächtig nach. Schön, dass sie sich „Miller's Crossing“ anschauen will, den besten Film der Coen-Brüder. Alles in allem doch ein Geschenk. Herzlichen Dank nach Zürich!
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