Eins werden aus Vielen
In "The Big Goodbye", Sam Wassons Buch über die Entstehung von »Chinatown«, wird der Drehbuchautor Robert Towne mit einem Begriff zitiert, der entscheidend für sein Denken und für seine Arbeit ist: "shared values", also geteilte, gemeinsame Werte. An ihn musste ich mehrmals denken, als gestern die Amtseinführung von Joe Biden und Kamala Harris im Fernsehen verfolgte.
Towne wurde sich dieser Idee erstmals bewusst, als seine Eltern ihn in eine Vorführung von »Sergeant York« mitnahmen, in dem Gary Cooper den bekehrten Wehrdienstverweigerer Alvin C. York spielt, der aus dem Ersten Weltkrieg als Held zurückkehrte. Howard Hawks' ungewohnt patriotischer Film kam 1941 rechtzeitig zum Kriegseintritt der USA heraus. Der neunjährige Towne war beeindruckt von der Einhelligkeit, mit der das Publikum am Film teil hatte. Damals, sagt er im Buch, war der Großteil der Amerikaner noch religiös und glaubte an das Land. Es herrschte eine Haltung, die er als eine "moral unity" wahrnahm, als eine Vereinbarung, "dass es Dinge gibt, die man nicht kaufen oder verkaufen kann."
Wenn ein solches Klima gesellschaftlicher Übereinkunft existiere, meint Towne, ließen sich Geschichten erheblich wirkungsvoller und leichter erzählen. Das spürte er deutlich in seiner großen Zeit, die sich weitgehend mit der Epoche des New Hollywood deckte. Eine erst einmal verblüffende Aussage, denn damals war die amerikanische Gesellschaft so gespalten, wie sie es seit dem Bürgerkrieg nicht mehr gewesen war. Die Attentate der 1960er, Vietnam und Watergate hatten sie traumatisiert. Sie fühlte sich mannigfach verraten. Wie konnte Towne da von einem Konsens sprechen? Eine gemeinsame Erfahrung war natürlich die Entzauberung. Aber auf welche gemeinsamen Werte konnte sich das Kino in einem Land berufen, das Nixon als Erster in blaue und rote Staaten unterteilt hatte?
Tatsächlich ging dieses Kino eine einzigartig intime Verbindung mit dem Publikum ein. Das New Hollywood mochte zwar von Entfremdung handeln, aber es ging eine enge Kommunion ein mit Zuschauerinnen und Zuschauern. Es formierte in düsteren, pessimistischen Geschichten ein Gefühl von Aufbruch. Das Publikum fand sich in Filmen wie »Hundstage«, »Alice lebt hier nicht mehr«, »Einer flog über das Kuckucksnest« oder »Die drei Tage des Condor« unmittelbar wieder, sowie in den Szenarien der Desillusionierung, die Towne in »Das letzte Kommando«, »Shampoo« und eben auch »Chinatown« entwarf. Damals war der Filmmarkt noch ganz anders strukturiert, Filme konnten als Hits gelten, ohne dreistellige Dollarmillionen einspielen zu müssen. Aber auch die Blockbuster der Epoche, »Der Pate«, »Der Exorzist« und »Der weiße Hai« spiegelten mittelbar das Klima wider.
Die Filme predigten nicht nur zu den Bekehrten. Vielmehr nahm Towne damals einen Hunger auf etwas Neues war, den beide Seiten verspürten. Genau diese Hoffnung sprach gestern aus der Antrittsrede von Joe Biden. Ebenso wie ich mögen Sie es mittlerweile leid sein, in den Medien die Vokabeln "Heilung" und "Versöhnung" zu hören. Aber aus seinem Mund klangen die Appelle noch einmal anders: frisch, ursprünglich und nicht defensiv. Seine Ansprache war inhaltlich wenig bemerkenswert, wohl aber atmosphärisch: Sie griff eine Stimmung auf, die Harris und er unermüdlich beschworen haben. In ihrer Vorsicht liegt ein gigantisches Versprechen, an das man gern glauben würde. Das Ungefähr, in dem Biden bewusst blieb, schien belastbar. Es könnten volle Worte sein.
Ich vermeide hier mal das amerikanische "inspirierend": Es war ein anregender Tag. (Insbesondere, wenn man sich an die Übertragung der Nachrichtensender hielt, beim Zappen zum ZDF war immer nur Elmar Theveßen zu sehen, der dem Publikum erklärte, was es nicht zu sehen bekam.) Die Inauguration konnte man als einen einzigen, aufgeklärten Gottesdienst begreifen, angefangen mit diesem Ungetüm einer Familienbibel, auf das der Katholik Biden den Amtseid schwor (wie er es 1972 schon bei seiner Vereidigung als jüngster US-Senator am Krankenhausbett seiner Söhne tat, die den entsetzlichen Verkehrsunfall überlebt hatten). Ein Geist manifestierte sich, ohne falschen Ton. Eine amerikanische Freundin sagte mir, dass sei so gewesen, als habe ein Tischler die Wasserwaage angelegt und gesagt: Darauf können wir bauen. (Sie erklärte mir auch, Kamala Harris habe für die Farbe ihres Kostüms als Reverenz an Shirley Chisholm gewählt, die als erste Schwarze 1972 für das Präsidentenamt kandidierte.) Die Gemeinde, die hier zusammenkam, bildete eine diverse Gesellschaft ab. Die Feier beglaubigte den Wappenspruch der USA, der diesem Eintrag seinen Titel gibt. Ihre Inszenierung war weihevoll, aber die Besetzung klug über die Bande gespielt. Es sagen eben nicht nur Lady Gaga, Jennifer Lopez, sondern auch der Countrysänger Garth Brooks. Die 22jährige Dichterin Amanda Gorman raubte den Atem.
Das Amerika, das sich an diesem Tag zeigte, schien wieder an seine Mythen glauben zu wollen. Die Rituale der Amtseinführung jedenfalls wurden von einem Pathos des Aufbruchs erfüllt. Bemerkenswert fand ich den Gang durch die Rotunde des Weißen Hauses, wo Präsident und Vizepräsidentin Geschenke entgegen nahmen, als erstes das Gemälde des afro-amerikanischen Malers Robert S. Duncanson, der die Utopie Amerikas in einer archetypischen Landschaft - ein Regenbogen ist immer gut – entdeckte. Hätte es ein Weißer anders gemalt? Bidens Ehefrau Jill hat es gemeinsam mit einem einem republikanischen Senator ausgesucht. Gescheite Symbolpolitik, wohin man nur schaute gestern. Genug für beide Seiten.
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