Wie ein fortgesetzter Gedanke
Man schaut seine Filme nicht mehr mit denselben Augen: Er ist nicht mehr der, der er einmal war. Aber ebenso gut ist es möglich, dass das Gegenteil stimmt. Clint Eastwood ist sich treu geblieben. Und insgeheim zieht uns manchmal doch noch die einstige Coolness in den Bann, die zynischen Einzeiler und die Kaltblütigkeit, mit der seine frühen Charaktere gegen den eigenen Tod wetten.
Außer Frage steht, dass er seine Filme heute aus anderen Gründen dreht und wir sie aus anderen Gründen sehen. Das gilt auch retrospektiv: Ich muss gestehen, dass ich seine Western mit Sergio Leone erst jetzt wirklich schätzen gelernt habe. Die Widersprüche und Ambivalenzen ergeben mehr Sinn. Zumindest lassen sie sich besser aushalten. Denn beide Seiten sind aufgeklärter geworden, vielleicht gar toleranter, haben alte Vorurteile begraben und neue entdeckt, sind mit der Zeit gegangen und haben sich eine Zuversicht für die nächste Begegnung bewahrt, die nach sechs Jahrzehnten im Filmgeschäft wenig an Elan verloren hat. Zwischendurch ließ die Treue auch mal nach, um sich in eine belastbarere, verdiente Loyalität zu verwandeln. Man unterschätzte einander und war danach umso mehr auf Verblüffung gefasst. An diesem Sonntag wird Eastwood 90 - und damit auf den Tag 15 Jahre älter, als es Fassbinder geworden wäre, mit dem er das atemlose Arbeitstempo gemeinsam hatte sowie das Mandat, vom eigenen Land erzählen zu müssen.
Als Kinofigur war er so viele Jahre der Andere, der Fremde, der Mann ohne Namen, dass er uns immer vertrauter wurde. Eastwoods Inszenierung bestand auf deren Undurchdringlichkeit, niemand jenseits von Gordon Willis drehte so dunkle Filme, es brauchte eine Weile, bis auch die Charaktere mitzogen und in sich dieselbe Charakterschwärze erkannten, die Last einer Schuld oder Verantwortung die sie seit »Erbarmungslos« nicht mehr abschütteln konnten. Danach handelten seine Filme lange von der Unentrinnbarkeit des Gewissens, gewannen Oscars für die glaubhaft rigide Revision der Mythen und seines eigenen Image. Nach dieser Katharsis wurde Eastwood noch freier. Was er sich nun alles zutraute als Darsteller und Regisseur! Als Schauspieler schien er zuvor mehr an Ikonografie denn an Psychologie interessiert zu sein. Aber er eröffnete sich neue Räume, die er ausfüllen konnte. In »Million Dollar Baby« lernt er als Boxtrainer heimlich Gälisch, um Yeats im Original lesen zu können. Ein Musical hat er gedreht (»Jersey Boys«) und eine Meditation über Verlust und Transzendenz (»Hereafter«), die nicht wirklich gelungen sind, aber die man als Suchbewegungen nicht missen möchte: Auch im Scheitern wurde er immer besser. Seine Ausfälle in den 80ern sind jedenfalls schwerer zu verkraften.
Aber andererseits: Warum überraschte uns die Empfindsamkeit von »Die Brücken am Fluss« so sehr? Hatten wir tatsächlich vergessen, dass ihm schon in seiner zweiten Regiearbeit »Begegnung am Vormittag« ein zärtliches Melo über vorläufige und endgültige Gefühle gelungen war? Eastwood lernte einfach nur, das Potenzial zu entfalten, was er in sich spürte. Entgrenzen wollte er seine Leinwandpersona nie; warum auch. Ihm genügte es, an ungekannten Herausforderungen zu wachsen. Sein Weltbild mag skeptisch und pessimistisch sein; seine Kreativität ist zutiefst romantisch im Ergreifen unverhoffter Möglichkeiten.
Sie sehen: Eastwoods Karriere und die Auseinandersetzung mit ihr sind immer auch eine Frage des Timings. Als Frank Schnelle und ich 1996 ein Buch über ihn herausbrachten, schien der Zeitpunkt ideal, Da wurde er auch in Deutschland, nach »Erbarmungslos« und »Die Brücken am Fluss«, als Filmemacher ernster genommen. Aber 96 war vielleicht zu früh; ähnlich erging es im selben Jahr der Biographie des intimen Eastwoodkenners Richard Schickel. Danach wurde jeder, fast jeder Eastwood-Film zu einem gewichtigen Ereignis. Zu den Pressevorführungen erschienen die Redakteure der großen Feuilletons, die man sonst nie sah, in Mannschaftsstärke. Anfang des Jahrtausends erhielt er mit »Mystic River« und »Million Dollar Baby« endgültig die höheren Weihen. Fortan ging es nicht bergab, sondern differenzierten sich seine Interessen. Man denke nur an den amerikanisch-japanischen Blickwechsel in den zwei Filmen über Iwo Jima. Seine zwei größten kommerziellen Erfolge feierte in diesem Jahrtausend, mit »Gran Torino« und »American Sniper«. Aber er machte sich zusehends auch unabhängig vom breiten Publikumsgeschmack.
Eastwoods 90, Geburtstag scheint auf den ersten Blick ein idealer Zeitpunkt für eine Monographie über ihn. Im wunderbar facettenreichen Programm von Schüren ist pünktlich eine von Kai Bliesener erschienen: "Mann mit Eigenschaften". Die Lektüre war ein harter Kampf für mich: Das Buch ist etwas mehr als Fan-Literatur, aber weit entfernt von Filmjournalismus. Die Begeisterung steht außer Zweifel, aber das hilflose Vokabular geht einher mit einem Mangel an analytischem Zugriff. Bisher stand ich in dem Glauben, "Streifen" habe seit den 60ern als Synonym für einen Film ausgedient, aber das war wohl zu naiv. Wenn Bliesener gelegentlich mokant von einem "Filmchen" schreibt oder einen anderen als "belanglos" einstuft, demonstriert er, wie fremd ihm die Vorstellung einer tiefschürfenden Auseinandersetzung ist. Eastwood hat viele schlechte Filme gedreht, aber keiner ist für einen kritischen Betrachter ohne Belang. Ziemlich mutig, dass Bliesener einen Essay von Georg Seeßlen abdruckt, der über einen ganz anderen interpretatorischen Apparat verfügt. Das Buch ist, um einmal in seinem sprachlichen Duktus zu bleiben, nicht so mein Ding.
Es kann ohnehin nur eine Zwischenbilanz sein. Mit Eastwood ist weiterhin zu rechnen. Er dreht ohne Unterlass, schickt sich an, der Manoel de Oliveira Hollywoods zu werden. Ich bedaure etwas, dass er seit 2006 so sehr auf die Verfilmung wahrer Ereignisse fixiert ist (nur zwei seiner letzten 13 Filme entspringen einem anderen Erzählimpuls); zumal er deshalb selbst immer weniger vor der Kamera steht. Aber das schmälert meine Freude nur sporadisch. »Invictus« und »Sully« etwa sind vielschichtige Studien über das Heroische, seine Bedingungen sowie Legitimation im Alltag. Auf »Der Fall Richard Jewell« bin ich gespannt: sobald er nach Corona herauskommt.
Auf Eastwood lässt sich etwas münzen, das ich gerade über einen völlig anderen Regisseur schrieb, den rüstigen Querulanten Godard (der ihm immerhin einen Film widmete, allerdings zusammen mit Edgar Ulmer): Er legt es nicht darauf an, jedes Mal ein Meisterwerk zu drehen, sondern Filme, die einem fortgesetzten Gedanken folgen. Sie bleiben offen, ein wenig vorläufig, zielen nicht auf die definitive Form. Das ist keine Frage flüchtiger Hingabe, sondern erwartungsvoller Beweglichkeit. Sie sind bemerkenswerte Etappen in einem schöpferischen Leben. Möge es noch lange dauern.
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