Schwankende Börsenkurse
Gestern begann jene Zeitspanne, die viele Berliner Kinobesitzer traditionell fürchten. Schließlich sind nicht alle Lichtspieltheater zu »Berlinale goes Kiez« eingemeindet. Die anderen müssen sich derweil auf die notorische Berlinale-Delle gefasst machen. Nicht die besten Auguren für Neustarts wie den schönen »Euforia« oder die ganzen Hundefilme dieser Woche. Andererseits vergisst man immer wieder, dass Berlin nicht Deutschland ist.
Während die Kinobetreiber den Berliner Februar zähneknirschend als saisonalen Einbruch verbuchen, sind anderswo unvorhersehbare Rückschläge zu beklagen. In Frankreich rätselt die Branche gerade darüber, weshalb der Januar so umsatzschwach war. Im Vorjahr konnte man noch 18 Millionen Kinobesuche verzeichnen, in diesem waren es nur 14,4. Das stellt einen Rückgang um mehr als ein Fünftel dar (der Januardurchschnitt liegt seit 2010 bei knapp 16,8). An der Streamingkonkurrenz soll es eher nicht liegen, statt dessen könnte die Streikwelle in Frankreich der Grund sein. Die aber hätte sich im Dezember eigentlich viel stärker auswirken müssen, fügte dem Ergebnis verlässlicher Franchises (»Star Wars«, »Die Eiskönigin«, »Jumanji«) allerdings keinen epochalen Schaden zu. Die französische Januar-Delle ist wohl einfach dem Mangel an potenziellen Kassenmagneten geschuldet.
Weit gravierender ist die Krise des chinesischen Kinos, die durch das Coronavirus verschärft wird. Der Kinobetrieb ist seit dem 24. Januar praktisch lahmgelegt; Dreharbeiten werden abgesagt oder verschoben. Der Ausbruch der Epidemie traf die Filmtheater zur absoluten Unzeit: Die zehntägigen Ferien zu Beginn des Mondjahres sind ihre Hochzeit, da erzielen sie gewöhnlich 20% oder 30% ihrer Jahreseinnahmen. Das Jahr der Ratte, in dem China hoffte, die USA als größten Filmmarkt endlich zu überrunden, ließ sich katastrophal an. Ein Analyst von Price Waterhouse Cooper nennt die Zahlen: 2019 nahmen die Kinos während der Ferienzeit 240 Millionen Dollar ein, nun sind es gerade einmal 300000. Die Aktien des Mediengiganten Wanda Film haben an der Börse von Shenzen ein Viertel ihres Werts eingebüßt. Zahlreiche Händler und Verkäufer mussten ihre Teilnahme am Europäischen Filmmarkt während der Berlinale absagen. Die Erschütterung des begehrten Exportmarktes wird zweifellos auch Auswirkungen auf Hollywood haben. Disney wollten ihn im Frühjahr mit dem Realfilmremake von »Mulan« erobern, aber derzeit kann niemand sagen, wann er herauskommt.
Diese Welle von schlechten Nachrichten folgt auf eine Kaskade der guten. 2019 hat der Kinobesuch weltweit zugenommen. Japan verzeichnet einen Zuwachs um 17 %. Auch in den USA wurde mehr Geld eingenommen als 2018 (was allerdings nicht bedeutet, dass mehr Kinokarten verkauft wurden). In Europa, wo man nicht mit Dollars, sondern Kinobesuchen rechnet, sind fast überall Steigerungsraten zu verzeichnen. (Quelle) Nur in Skandinavien ergibt sich ein gemischtes Bild; über die Stabilisierung des deutschen Marktes schreibt Rudolf Worschech ausführlich im aktuellen epd-Heft. Die erste Erfolgsmeldungen kam Mitte Januar aus Italien, wo der Zuwachs 14,35 % beträgt. Frankreich hatte mit 213,2 Millionen die höchsten Zuschauerzahlen seit 53 Jahren (damals gab es nur das Fernsehen als Rivalen!). Heute kam die Meldung, dass Polen das sechste Rekordjahr in Folge erlebt hat. Diese erfreulichen Ergebnisse scheinen zu bestätigen, was Frank Schnelle im Februarheft über den zu erwartenden Krieg der Streamingplattformen schreibt: »Die Zeichen stehen auf Koexistenz.« Vorerst? Oder nach der Berlinale-Delle.
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