Die beste Wahl
In den letzten Wochen musste ich oft an James Mason denken. Nicht nur, weil ich den letzten Satz meiner Kritik zu »Judy« heimlich aus seiner Grabrede auf Judy Garland gestohlen habe, seiner schwierigen Partnerin bei »Ein neuer Stern am Himmel«. Sondern auch, weil das Filmpodium in Zürich ihm gerade eine Werkschau widmet - ohne runden Anlass, aber mit allem Grund.
Bei der Bekanntgabe der Oscarnominierungen kam er mir ebenfalls sofort in den Sinn. Er selbst hat vier erhalten, was natürlich viel zu wenig sind, und nie die Trophäe selbst. Dafür hat er, gewissermaßen als vorauseilende Rache, die Zeremonie auf der Leinwand erbarmungswürdig, herzzerreißend sabotiert. In »Ein neuer Stern am Himmel« irrlichtert er auf die Bühne, als Garland die Auszeichnung als Beste Schauspielerin entgegen nehmen will. In dieser zweiten Version von »A Star is born« spielt er Norman Maine, dessen Karriere sich wegen seiner Alkoholsucht im freien Fall befindet und beschämt die versammelte Hollywood-Aristokratie mit dem kläglichen Schauspiel, um eine Rolle betteln zu müssen.
Mason war die vierte Wahl für den Film. Humphrey Bogart und Laurence Olivier hatten bereits abgesagt. Cukors Wunschbesetzung war Cary Grant, der sich mit ihm zu einer Lesung des Drehbuchs traf. Der Regisseur war beeindruckt von der Tiefe und dem Nuancenreichtum, mit dem er den ausgebrannten Star interpretierte. Als Grant fertig war, blieb Cukor mit der schmerzlichen Gewissheit zurück, dass er sich vor der Kamera nicht eine solche Blöße geben würde. Insgeheim geniert es Grant wohl auch, neben Garland nur die zweite Geige zu spielen.
In diesem Augenblick schlägt ein Agent einen anderen gebürtigen Briten für die Rolle vor. Der 44jährige Mason ist es gewohnt, Nachrücker zu sein. Er weiß auch, dass das wahre Risiko bei diesem Projekt der Zustand des ehemaligen Kinderstars Garland ist, der wegen der Tablettensucht im Ruf steht, ein nervliches Wrack zu sein. Er soll sich als die ideale Besetzung erweisen. Seine Interpretation der Rolle und sein zuvorkommendes Verhalten gegenüber seinem weiblichen Co-Star werden zum Garanten dafür, dass das Projekt nicht scheitert. Er legt große Zärtlichkeit in die Szenen, in denen er zum Mentor der jungen Sängerin Esther Blodgett wird, ermutigt sie und schürt ihre Zuversicht, Starqualitäten zu besitzen. Zwar hat Mason zu diesem Zeitpunkt einige seiner größten Erfolge noch vor sich – bald darauf soll er in den Blockbustern »20000 Meilen unter dem Meer« und »Der unsichtbare Dritte« mit spielen-, aber er versteht Norman Maine, seine Selbstzweifel, den Abscheu vor dem, was aus ihm geworden ist.
1954 hat er schon ein infernalisches Pensum hinter sich. In »Der Herr in Grau« wird er zehn Jahre zuvor zu einem matinee idol: ein Star, der die Hausfrauen schon tagsüber ins Kino lockt. Er besitzt eine unwiderstehliche Aura düsterer, romantischer Verworfenheit. In den Melodramen, die er für das Studio Gainsborough spielt, verkörpert er meist ruchlose Edelleute und Lebemänner. Diese Figuren sind besitzergreifend, behandeln die Frauen mit verächtlicher Grausamkeit. Der Sadismus wird sein Markenzeichen, er peitscht seine Partnerinnen Margaret Lockwood, Phyllis Calvert und Ann Todd aus oder geht mit einem Schürhaken auf sie los. Das machte ihn für das weibliche Publikum nicht weniger begehrenswert.
Distinguiert und stattlich (er hat ihn Cambridge zur Rudermannschaft gehört) wirkt er in diesen Filmen. Sein Blick ist stolz, hochmütig und durchdringend, sein Lächeln maßvoll und unergründlich. Seine vollen Lippen verbergen ein unregelmäßiges Gebiss, das er nie richten ließ. Oft presst er sie zusammen. Aber er ist einer der wenigen Schauspieler, die auch mit offenem Mund intelligent aussehen können. Die hohen Wangenknochen verleihen seinen Zügen eine Härte, die das Versprechen birgt, dass dieser Mann, wenn nicht bezähmbar, so doch zumindest berührbar ist. Seine Aufmerksamkeit und Galanterie sind ein Privileg, das man um jeden Preis erringen will.
Von 1944 bis 1947, dem Jahr, in dem er nach Hollywood geht, ist er der Topstar des britischen Kinos. Aus seiner Unzufriedenheit über die Branche macht er keinen Hehl. Er scheut sich nicht, über die Vulgarität und den Kleinmut der Produzenten zu klagen. Als ihn der Regisseur Leslie Arliss stundenlang am ersten Drehtag von »Die Frau ohne Herz« warten lässt, versetzt er ihm einen wütenden Fausthieb. In Carol Reeds »Ausgestoßen« kann er endlich eine Rolle spielen, auf die er stolz ist. Er verleiht dem idealistischen Anführer einer Gruppe von IRA-Kämpfern eine leise, ruhige Autorität. Der Film schildert die letzten Stunden eines Todgeweihten – nach einem überaus kultiviert und besonnen ausgeführten Raub von Lohngeldern wird er angeschossen und von der ganzen Stadt gejagt. Diesmal ist sein Leinwandschicksal nicht melodramatisch, sondern wahrhaft tragisch.
In Hollywood kommt seine Karriere nur schleppend in Gang. »Der Mann in Grau« ist zwar auch in den USA populär, aber man erwartet ihn nicht mit offenen Armen. Sein Bild in der Öffentlichkeit ist zwiespältig. In Gesellschaft erscheint er umgänglich, charmant, humorvoll. Aber in seinem Privatleben gibt es Episoden, an denen die amerikanische Presse Anstoß nimmt. Er hat seine erste Frau Pamela, die Tochter eines Studiochefs, umworben, als diese bereits verheiratet ist. Mit ihrem Ehemann leben sie zeitweilig in einer offenbar prächtig funktionierenden Ménage-à-trois unter einem Dach in der Baker Street. Ihr Verhältnis ist ungetrübt genug, dass alle Drei später noch an gemeinsamen Projekten arbeiten. Masons Entscheidung, den Kriegsdienst zu verweigern, ist auch in den USA umstritten.
Seine schönsten Rollen hat er anfangs in zwei Filmen von Max Ophüls: als aufopferungsvoller junger Arzt in »Gefangen« und als der wahrscheinlich sympathischste Erpresser der Filmgeschichte in »Schweigegeld für Liebesbriefe«. Ophüls schätzt ihn, weil er im Gegensatz zu den meisten Stars nicht ständig auf Großaufnahmen besteht. Aber die meisten Rollen gehorchen jenem amerikanischen Reflex, dem die britische Reserviertheit verdächtig ist. Er wird auf den Typ des raffinierten, überheblichen Schurken festgelegt. Er verleiht ihnen, wie der kubanische Schriftsteller Guillermo Cabrera Infante 1984 in seinem Nachruf auf ihn schreibt, die elegante Effizienz eines in Seide gehüllten Dolchs.
Ich merke schon, das Ganze wird wieder viel länger. Verzeihen Sie, aber das hier ist eine Herzensangelegenheit – Mason zählt zu meinen vier Lieblingsschauspielern -, ich komme darauf zurück.
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