Der stille Teilhaber, das Double und der Maestro
Seit Tagen geht mir das Thema aus „Achteinhalb“ nicht mehr aus dem Kopf. Ich hatte Fellinis Film seit Jahren nicht mehr gesehen. Nun nun entdeckte ich ihn wieder, aus gegebenem Anlass. Es gibt verdrießlichere Ohrwürmer.
Eigentlich war immer das Hauptthema aus „La Dolce Vita“ mein Favorit unter den Melodien, die Nino Rota für ihn komponierte: dieses funkelnde, urbane Insistieren! Sie klingt nicht so monumental wie die Musik zu „Fellinis Roma“, aber wird der Stadt mindestens ebenso gerecht. Das Hauptthema aus „Otto e mezzo“ ist jedoch typischer für ihre Zusammenarbeit, die von „Der weiße Scheich“ an eigentlich immer auf Zirkusmusik hinauslief. Es ist fidel und munter, aber der Rhythmus ist unerbittlich. Das Tempo zieht stetig an. Der Zirkus muss weiterziehen.
Auf Fotos nimmt sich der schmächtige Komponist ziemlich schmächtig aus an der Seite des großen Zampano. Auch wenn in seinen Zügen noch das einstige Wunderkind wiederzuerkennen ist, das mit elf das erste Oratorium verfasste, erinnern sie doch vor allem an einen Buchhalter, den ein launiges Schicksal in die Filmwelt verschlagen hat. Er wirkt wie der stille, schüchterne Teilhaber an Fellinis extrovertierten Unternehmungen. Sein Musik allerdings ist nicht spitzfindig. Fellini wunderte sich oft, wie wenig ihn die einzelnen Einstellungen interessierten. Zwar dienen ihm Gesten und Blicke als Auslöser, aber er illustriert sie nicht. Er vollzieht sie nicht nach. Seine Partituren sind weitflächig konzipiert, den Details entrückt, nehmen immer gleich die ganze Szene atmosphärisch in den Blick.
Am Samstag sah ich die Dokumentation „Auf Fellinis Spuren“ auf 3SAT, dem einzigen Sender, der Notiz von Fellinis 100. Geburtstag nahm. Darin tritt der Akkordeonist Richard Galliano auf (der zu Rotas 100. ein schönes Album aufnahm) und sagt, diese Melodien ließen niemanden unberührt, weil sie gehobene Volksmusik sind. In der Tat, Rotas musikalisches Universum kennt keine Hierarchien, ist unbeschwert vorurteilslos. Wie jeder große Filmkomponist ist er ein Meister der Übereinkunft. Er weiß den Wert der Wiedererkennbarkeit zu schätzen. Seine Themen adaptiert er häufig aus Straßenmusik, aus Folklore. Kein anderer Komponist musste so viele Märsche und Tänze verfassen. Seine Musik zu Fellinis Filmen geleitet mich nun durch dessen runden Geburtstag. Ich glaube, die Zwei waren auch deshalb ein so gutes Gespann, weil Rotas Musik so vielstimmig ist. Sie verleiht den Gefühlen eines Kollektivs Ausdruck: dem Freundeskreis in „Die Müßiggänger“, einer ganzen Stadt in „Amacord“ und eben „Roma“, und im Grunde auch das Wirrwarr um den Regisseur in „Achteinhalb“. Ihr Tonfall ist die gewitzte Nostalgie. Sie künden von Sehnsucht und Wurzeln, dem Gefühl von Gemeinschaft. Nach Rotas Tod musste Fellini lange nach einem neuen musikalischen Komplizen suchen, den er endlich in Nicola Piovani fand.
Einen erfreulicheren Auftakt des 100. Geburtstag als Arno Widmans Gratulation in der „Frankfurter Rundschau“ hätte ich mir nicht wünschen können. Er holt ihn auf ganz persönliche Weise in die Gegenwart. Seine besondere Gabe, die eigene Biographie in seine Artikel einzubringen, zahlt sich hier triftig aus. Für ihn bedeutete Fellini zuerst einmal Freiheit. Herrlich, wie er Momente beschreibt, die sich ihm einprägten – die Tische des Restaurants etwa, die in „Roma“ für die Straßenbahn fortgeräumt werden müssen. Er fürchtet, heute allein mit seiner Bewunderung zu stehen; eine Sorge, die ich verstehe (was hat der Regisseur von „Stadt der Frauen“ nachfolgenden Generationen noch zu sagen?), die aber vielleicht unbegründet ist. Gestern Abend war im Berliner Arsenal die Eröffnung der Filmreihe über Fellini und Marcello Mastrioanni jedenfalls ausverkauft.
Heute morgen schaute ich mir die Ausstellung im Italienischen Kulturinstitut an, die sie begleitet. Sie ist klein, nur ein paar Dutzend Fotos umfasst sie, meist schwarzweiß, vielleicht vier in Farbe. Sie zeigt das einmalige Talent der italienischen Setfotografen. Allerdings fängt sie mit Kindheitsfotos der beiden an. Bei Fellini sind die schweren Lippen und Augenlider schon früh ausgeprägt. Erstaunlich im Gegenzug, wie sich Marcello die Geschmeidigkeit seiner kindlichen Züge bewahrt hat. „Alter ego“ heißt die kleine Schau: ein janusköpfiges Glück. Die Ausstellung läuft noch bis zum 26. Februar, Mitte nächsten Monats gibt es ein Rota-Konzert (unter Jazzmusikern sind seine eingängigen, klaren Melodien seit jeher populär), da kommen das Dreigestirn meiner Überschrift zusammen.
Das Double seines Regisseurs ist Marcello natürlich vor allem in „Achteinhalb“, wo er dessen Hut, Brille und Schal trägt. Graumeliert sind seine Haare auch. Das Plakatmotiv zeigt ihn, wie er sich mit angewinkeltem Bein an einen Türrahmen gelehnt. Fellinis Knie berührt das seine fast. Er scheint zu tanzen. In der Schau ist das Foto Teil einer Serie. Marcellos Haltung verändert sich nicht, nur sein Ausdruck. Zweimal lächelt er. Fellini tanzt auf allen vier Bildern. Sie halten eine Zwiesprache der Blicke und Gebärden.
Ihre Vertrautheit ist professionell. Sie besitzt aber auch eine Erotik. Die Körper bewegen sich oft aufeinander zu auf den Dreharbeitenfotos; Nähe ist entscheidend für ihre Zusammenarbeit. Sie lieben und bewundern sich, wie Freunde oder Brüder. Fellini müsste eigentlich den Vater geben, aber andererseits sind sie altersmäßig ja nicht so weit auseinander. Der Regisseur umarmt seinen Star oder lehnt sich an ihn an. Während einer Drehpause zur Orgienszene in „La Dolce Vita“ liegen sie entspannt nebeneinander.
Natürlich spielt Fellini ihm häufig den gewünschten Ausdruck vor. Auf den Fotos sieht das nicht nach Arbeit aus, sondern nach Spiel. Wir verstehen uns so gut, sagte Marcello einmal, weil wir beide Kinder geblieben sind. Wie sehr Fellini seine Dreharbeiten als Medienereignisse inszenierte, wird deutlich in den Impressionen. Einmal besucht Sophia Loren, Marcellos unzertrennliche Komödienpartnerin („Sophia agiert, ich reagiere.“) die Dreharbeiten zu „Achteinhalb“. Wieder eine Serie, und auf jedem Bild gibt es jeweils eine Person, die direkt in die Kamera des Pressefotografen blickt.
Mein Lieblingsfoto zeigt Marcello und Fellini bei einem Abendessen. Der Tisch ist gedeckt, die Mahlzeiten stehen aber noch aus. Der Moment ist ausleuchtet wie eine Filmszene. Ein helles Unterlicht fällt Marcellos Züge. Er hört zu. Die Augenhöhe ist gewahrt. Hier sitzen zwei Verschwörer beieinander, die etwas aushecken, das uns heute noch angeht. Was mögen sie bestellt haben? Das ist mein kulinarisches Dilemma am heutigen Tag: Marcellos heißgeliebte Pasta e fagioli oder Spaghetti, die Fellini immer so lustvoll verschlang?
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