Ein Hochamt
Technische Probleme sind in diesem Kinojahr zu einem geflügelten Wort geworden. Im Zusammenhang mit dem chinesischen Kino fungieren sie als ein Euphemismus, der Zensur verschleiert. Etwas ähnliches hätte ich beinahe auch im Fall von »Amazing Grace« vermutet. Zunächst konnte man den Eindruck gewinnen, seine Protagonistin habe seine Vorführung verhindern wollen.
Vor vier Jahren spekulierte ich bereits an dieser Stelle darüber (siehe den Eintrag "Inflationsunbereinigt" vom 31.8. 2015). Heute startet er bei uns unter einem vielleicht bezeichnenden Doppeltitel: »Aretha Franklin - Amazing Grace«. Am Ende bekam er doch ihren Segen. Beim Sehen des Films, das ist meiner Kritik in der aktuellen Ausgabe eventuell anzumerken, hatte ich zeitweilig den Verdacht, der Sängerin habe es missfallen, dass Reverend Cleveland ihr zu oft in die Parade fuhr. Da kann ich mich irren. Denn die technischen Schwierigkeiten, die seine Veröffentlichung fast ein halbes Jahrhundert vereitelten, sind erstaunlich.
Sydney Pollack war zu dem Zeitpunkt, als ihn Warner Brothers in die Missionary Baptist Church in Los Angeles schickte, bereits ein gestandener und gefeierter Regisseur. Als Dokumentarfilmer war er im Januar 1972 jedoch unerfahren. Ich habe keine Ahnung, wie viel Aufmerksamkeit ihm Franklin damals überhaupt schenkte. Seine bisherigen Filme hatten Oscar-Nominierungen erhalten und waren in Cannes gelaufen, aber ihr sagte Montreux wahrscheinlich mehr.
Wie im im fertigen Film zu sehen ist, hat sein Team großartiges Material erbeutet - man denke nur daran, wie wachsam seine Kameraleute immer wieder das Gemälde eines muskulösen, dunkelhäutigen, taufenden Jesus in den Blick nehmen sowie das Sternenbanner, was diesem Hochamt des Gospel auch eine patriotische Note verleiht. Aber Pollack beging einen verhängnisvollen Anfängerfehler. Von Spielfilmen war er gewohnt, dass Ton und Bild separat aufgenommen wurden. Deshalb kam es ihm nicht in den Sinn, diesmal vor jedem Take seinen Assistenten die Klappe schlagen zu lassen. Lange Zeit schien es mithin unmöglich, irgendeine Synchronität herzustellen. Es ging ja nicht nur darum, dass Miss Arethas Gesang lippensynchron war. Das galt ebenso für den des Southern California Community Choir, der prominent im Bild ist; von den Zwischenschnitten auf das ekstatische Publikum mal ganz zu schweigen. Nun passt das alles, der digitalen Nachbereitung sei es gedankt. Es muss eine Höllenarbeit gewesen sein. Ein befreundeter Cutter, dem ich einige Tage später von diesem Wirrwarr erzählte, nickte mit leidgeprüfter Miene.
Bevor ich meine Kritik schrieb, forschte ich in einer französischen Pollack-Monografie sowie diversen Interviews, ob sich der Regisseur je zu diesem Projekt geäußert hatte. Warners versprachen sich viel davon, immerhin hatte »Woodstock« gerade demonstriert, dass ein Konzertfilm enorm Kasse machen kann. Aber meine Recherchen waren erfolglos. Dennoch muss ihm der Auftrag, den er zwischen den Dreharbeiten zu »Jeremiah Johnson« und »The Way we were« annahm, etwas bedeutet haben. Im Presseheft zu »Amazing Grace« ist das Faksimile eines Briefes (oder, das lässt die Kopfzeile vermuten, eines Faxes, welches er im September 1998 während der Arbeit an »Begegnung des Schicksals« abschicken ließ) an Aretha Franklin abgedruckt. Pollack schreibt von der Aufregung und Begeisterung, mit der er damals bei ihren zwei Auftritten drehte. Er habe im Laufe der Jahre oft an das Material gedacht, das dabei entstand. Es ist eine offene Rechnung, die er nicht einklagt. Aber ihm ist daran gelegen, dass das filmische Zeugnis dieser "zwei unglaublichen Nächte" nicht in Vergessenheit gerät.
Das Berührende an diesem Dokument ist die Bescheidenheit, mit der es formuliert ist. Pollack war 1998 längst einer der berühmtesten und mächtigsten Männer Hollywoods, ja des Weltkinos. »Tootsie« und »Jenseits von Afrika« waren Riesenerfolge und mehrfache Oscar-Gewinner, »Die Firma« ein veritabler Blockbuster. Er war als Darsteller bei Robert Altman, Woody Allen und Stanley Kubrick aufgetreten. Aber er rechnet nicht damit, dass dies in ihrer Welt viel gilt. Er beansprucht keine Augenhöhe der Prominenz, sondern stellt sich höflich mit Namen, Beruf und als Bewunderer der Sängerin vor. Wahre Größe.
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