Ein Glücksfall
Die spanische Weihnachtslotterie ist keine Auslosung wie andere. Sie ist ein nationales Ereignis. Es gibt sie schon seit 1812 und sie hat Jahr für Jahr einen riesigen Zuspruch. Kein Wunder, denn das Geld wird mit großer Kelle verteilt. Jede Losnummer wird 170mal vergeben und irgendwie hat man das Gefühl, dass jeder gewinnt.
Die Ziehung der Gewinnerlose dauerte auch in diesem Jahr mehrere Stunden und wurde zwei Tage vor Heiligabend live im Fernsehen übertragen. Diesmal wurde „El Gordo“, der dicke Hauptgewinn, bereits zu Beginn bekannt gegeben – er fiel auf die Nummer 26590 und betrug 4 Millionen Euro -, aber wahrscheinlich blieb das Publikum auch wieder bis zum Ende gebannt vor dem Fernseher sitzen. Schließlich werden danach noch 1799 weitere Gewinne ausgelost. Angeblich beteiligen sich auch immer mehr Deutsche an dieser Tombola. Das könnte man direkt einmal für 2020 ins Auge fassen. Dabei ist ein ganzes Los ziemlich teuer: Es kostet 200 Euro, weshalb viele Teilnehmer sich mit einem Zehntellos begnügen. Ich wusste gar nicht, dass es diese Option des kleinen Glücks noch gibt; sie ist mir nur aus Jacques Beckers „Antoine und Antoinette“ bekannt.
Die „Lotería de Navidad“ spielt ohnehin eine wichtige Rolle in der Filmgeschichte – zumindest, wenn man dem wundersamen Animationsfilm „Bunuel - Im Labyrinth der Schildkröten“ Glauben schenkt, der letzten Donnerstag bei uns angelaufen ist. Nach einem durchzechten Abend kauft Luis Bunuels Freund Ramón Acín ein Los, natürlich nicht für die normale, sondern eben die famose Weihnachtslotterie. Das soll sich als die klügere Entscheidung erweisen. An den Gewinn hat er das Versprechen geknüpft, „Las Hurdas – Land ohne Brot“, den nächsten Film des klammen Regisseurs zu finanzieren. Der zögerte erst, das Projekt eines Dokumentarfilms über die ärmste Region Spaniens in Angriff zu nehmen. Aber nun nimmt der gelernte Surrealist den Lostreffer als irdische Fügung. Ich bin nicht sicher, ob die Anekdote stimmt. Bunuel hat sie in Interviews und in seinen Erinnerungen „Mein letzter Seufzer“ gern erzählt. Auf jeden Fall passt sie in die saisonale Chronologie, denn die Dreharbeiten zu „Las Hurdas“ fanden im Frühjahr statt (wenngleich nicht 1932, wie der Vorspann behauptet, sondern im Jahr darauf). Legende und Wahrheit sind bei Bunuel notorisch schwer zu unterscheiden. Regisseur Salvador Simó war gut beraten, sich ohne störende Pedanterie auf dieses Schillern einzulassen.
Thomas Abeltshauser schildert in seiner Kritik im Dezemberheft sehr bündig die Entstehungs- und Skandalgeschichte von „Las Hurdas“, den er als Parodie landläufiger Dokumentationen begreift und hebt Bunuels surrealistischen Blickwinkel hervor. Beim Blick in den Essay, den ich für den Katalog der Bunuel-Retrospektive der Berlinale 2008 schrieb, fiel mir jetzt auf, dass ich relativ wenig mit dem dokumentarischen Pamphlet anfangen konnte. Ich handle es in ein paar Zeilen ab, dass ich von der „Degeneration der Bevölkerung“ schreibe, die er schonungslos in den Blick nimmt, liegt mir heute schwer im Magen. Immerhin entdeckte ich im Klassenzimmer der armseligen Dorfschule das Bild einer reichen, eleganten Dame. Ich müsste mir Simós detailreichen Film noch einmal anschauen, ob er dies Motiv aufgreift, beim ersten Sehen ist mir das nicht aufgefallen.
„Bunuel – Im Labyrinth der Schildkröten“ ist ein Kinoglück, nicht nur für hartgesottene Cinéphile, eigentlich ein fortgesetzter Akt der Befreiung und Entgrenzung der Genres; auch von seiner Vorlage, Fermín Solis' Graphischen Roman, löst er sich beherzt. Er frischt Filmgeschichte auf. Das Staunen fängt schon beim Regisseur an, denn Simó ist bisher vor allem als Spezialist für visuelle Effekte bei Disney-Produktionen bekannt. Wer weiß, welche Schätze seine Filmographie noch birgt? Seine Erzählung der Dreharbeiten ist keineswegs bunuelesk. Darin unterscheidet er sich von Solís' Graphic Novel, die jedem Kapitel beispielsweise ein literarisches Motto voranstellt, das ganz nach dem Geschmack des jesuitischen Atheisten gewesen wäre (etwa „Gott existiert nicht, und wir sind seine Propheten“).
Aber Simós Film verrät, dass er seinen Bunuel, den Filmemacher der Impulse, sehr genau kennt. Wie dieser seinen wachen Träumerblick auf die Realität des Elends richtet, ist wunderbar eingefangen; inklusive der Situationen, in welchen er der Wirklichkeit rabiat nachhilft. Simós Film ist ein moralischer Schelmenroman, der die Spiegelfechtereien der Surrealisten (denen es darum geht, die Welt zu verändern, ohne dass sie es merkt) ziemlich kokett aussehen lässt angesichts der Wahrheiten, mit denen der eingangs leichtfertige Bunuel in Las Hurdas, dem „vergessensten Ort“ nicht explizit erwähnender Welt, konfrontiert wird. Sorgfältig verfolgt Simó Bildmotive, die Bunuels Werk seit diesen Dreharbeiten heimsuchen. Den Einfluss, den sie später auf „Los Olvidados – Die Vergessenen“ haben werden, muss er nicht explizit erwähnen. Allerdings spürt er den vielfachen Inspirationsquellen von Bunuels Kino, namentlich seiner Kindheit, nach. Das ist eine schöne Archäologie, vor allem der Krise, in der sich Bunuel Anfang der 1930er Jahre befand, als er sich nach dem Skandal um „Das goldene Zeitalter“ von Salvador Dali zerstritt und keine Projekte mehr realisieren konnte. Simós Drehbuch spekuliert, der Bannstrahl des Vatikans reiche bis in die Büros französischer Produzenten. Dass er damals bereits „Wuthering Heights“ verfilmen wollte, ist aus seinen Erinnerungen zu erfahren. Wo hat Simó entdeckt, dass er seinerzeit ebenso erfolglos mit seinem „Robinson Crusoe“ hausieren ging? Im Vergleich zur graphischen Vorlage wirkt Bunuel bei ihm einen Hauch jünger. Das mag daran lieben, dass er meist glattrasiert ist. Das finde ich rücksichtsvoll, dann bei Bunuels Stoppelbart im Roman musste ich ständig an die Rasierklinge aus „Der andalusische Hund“ denken.
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