Die Kunst der Nachstellung
Einer der bemerkenswertesten Sätze, die ich je im Filmgeschäft gehört habe, lautet: „You have three wishes on a movie set.“ Er stammt von Bob Willoughby, einem der großen Standfotografen Hollywoods, der Audrey Hepburn, Alfred Hitchcock, Dustin Hoffman, Sydney Pollack, Elizabeth Taylor, John Wayne und unzählige andere Berühmtheiten bei der Arbeit festhielt.
Mit scheint, er taucht in diesem Blog schon einmal auf, im Zusammenhang mit „Rosemary's Baby“. Obwohl bei auflagenstarken Zeitschriften wie „Life“ etc. eine enorme Nachfrage nach seinen Impressionen von Dreharbeiten herrschte, war sein Status dort prekär. Er musste sich unsichtbar machen. Die Produktion räumte ihm immer nur einen kurzen Moment ein, um seine Bilder zu erbeuten; meist, nachdem die Szene abgedreht war. Bevor die nächste Einstellung ausgeleuchtet wurde, ließ er die Darsteller das gerade Abgedrehte noch einmal nachspielen. Die Fotos, mit denen Filme beworben werden und die oft unsere erste Begegnung mit ihm darstellen, sind in der Regel nicht identisch mit den tatsächlichen Kameraeinstellungen, sondern deren Nachahmung, eine repräsentierende Abweichung.
Willoughby war ein Genie des Augenblicks, er besaß ein zuverlässiges Gespür für die Arbeitsabläufe während eines Drehs und für die Essenz eines filmischen Moments. Er interpretierte ihn, warf einen eigenen Blick auf die Darsteller, Regisseure und Teammitglieder. Er machte kreative, fruchtbare Spannungen sichtbar. Zudem war er ein wachsamer Porträtist. Ich glaube, seine bei Nieswand veröffentlichten Bücher über vier Klassiker des Neuen Hollywood sowie seine Bildbände über Hepburn und seine Studien von Jazzmusikern in Los Angeles sind immer noch erhältlich. Übrigens war er auch ein gewiefter Geschäftsmann: Vermutlich hat er an der Dokumentation, die ich vor zwei Jahrzehnten für den WDR drehte, mehr verdient als ich.
Seit dem Niedergang der großen Illustrierten und seitdem die Kinos weitgehend auf Aushangfotos verzichten (siehe den Eintrag „Eine Verlustanzeige“ vom 4. Mai 2016), scheint seine Kunst obsolet geworden zu sein. Dennoch lebt sie fort, wie ich beim Betrachten des Presseheftes zu „Bis dann, mein Sohn“ feststellen durfte. Während der Vorbereitung meines epd-Artikels über das Verhältnis von Zensur und Markt im chinesischen Kino habe ich es vor einigen Wochen genau studiert und es vor einer Woche noch einmal durchgeblättert, als ich eine Kritik über Wang Xiaoshuais außerordentlichen Film schreiben sollte. Bei der ersten Gelegenheit ging es darum, den Film (den ich zuletzt auf der Berlinale gesehen hatte) für mich ins Gedächtnis zu rufen, bei der zweiten trieb mich eine andere Neugier an. Als ich den Film wiedersah, beeindruckten mich seine Blickachsen und Montage. Ich hatte den Eindruck, sie folgten zwei Strategien. In den Szenen, in denen es um politische Konflikte geht, herrschen Schuss-Gegenschuss-Folgen vor. Zwei Positionen werden einander frontal gegenüber gestellt. Ich denke da beispielsweise an die Szene, in der der Leiter der metallverarbeitenden Fabrik die Belegschaft adressiert, um sie in die Spielegeln der Marktwirtschaft einzuführen („Entlassungen sind keine Schande, Neueinstellungen sind ehrenhaft.“). Bei den privaten Auseinandersetzungen hingegen folgt die Montage diesem Prinzip weniger streng (die Übergänge sind allerdings oft auch fließend), da sind beide Parteien häufiger gleichzeitig im Bild, etwa bei der Aussprache zwischen den Eltern des verunglückten Sohnes und Haohao, dessen Freund, dem die Schuld daran angelastet wurde.
Die Szenenfotos, die von dem stills photographer Li Tienan stammen, fangen die Relevanz und Stimmung der Momente sehr fein ein. Allerdings entsprechen sie kaum je den Einstellungen, die im Film zu sehen sind. Oft sind sie aus einem anderen Blickwinkel aufgenommen, sie lösen gleichsam die Darsteller aus der filmischen Inszenierung, um dennoch dem jeweiligen Moment treu zu bleiben. Li Tienan hat ein besonderes Talent, ihn auf andere Weise zur Geltung zu bringen: Die seitliche Untersicht auf die Eltern, die am Grab des Sohnes sitzen, ist wunderbar in ihrer Gelöstheit. Manchmal wirken seine Fotos auch wie Ausschnitte, wie Blow ups, aus den jeweiligen Einstellungen. Dann wieder pointieren sie, was im Film als Kamerabewegung inszeniert ist. Da dem Standfotografen die Schuss-Gegenschuss-Folge nicht zu Gebote steht, gruppiert er die Figuren. Wesentlich stellen seine Bilder also eine Synthese der Augenblicke dar.
Einigen Bildern sieht man an, dass sie nicht während der Filmaufnahmen entstanden, sondern danach. Da besteht die Kunst darin, die Darsteller nicht posieren, sondern immer noch spielen zu lassen. Das gelingt nicht immer. Die Aufnahme von Vater Yaojun und seinem partybegeisterten Kollegen in der Werkhalle wirkt gestellt. Wenn Li Tienan die Motorradgang des Adoptivsohns am Strand aufreiht, merkt man hingegen, dass die Schauspieler viel Spaß beim Posieren hatten. Zuweilen repräsentieren seine Aufnahmen auch Szenen, die im fertigen Film gar nicht mehr enthalten sind – ich kann mich zumindest nicht erinnern, dass man die Mutter, Wang Liyun, beim Flicken von Fischernetzen sieht. Das ist durchaus im Sinne des Films, dessen Titel ein Satz ist, der in ihm nie gesagt wird. Li Tienan erzählt keine andere Geschichte, sondern vervollständigt sie nur. Im Netz konnte ich einige seiner Bilder zu "Bis dann, mein Sohn", aber nichts über diesen interessanten Standfotografen selbst finden. Ich hätte gern seine Arbeit an anderen Filmen studiert. Ebenso gern wüsste ich, wie viele Wünsche er auf den Filmsets frei hatte.
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