Der Kulturkampf wird vertagt II: Transatlantische Entzauberungen
Die Romanze zwischen Alfonso Cuarón und Netflix ist seit dem gestrigen Tag zwar nicht vorbei, aber sie hat sich merklich abgekühlt. Wie die Nachrichtenagentur „Efe“ berichtet, ärgert der Regisseur sich darüber, dass sein Film in Spanien mit spanischen Untertiteln läuft. Es sei beleidigend, dem iberischen Publikums zu unterstellen, es würde die mexikanische Mundart nicht verstehen.
Wenn beispielsweise ein „Mamá“ des Originals mit „madre“ untertitelt wird, greift wohl wieder jene anmaßende Detailgenauigkeit, von der ich gestern schrieb. Aber warum sollte es Cuarón anders ergehen als vielen seiner europäischen Kollegen, die in der Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Giganten manchen Kulturschock erlebt haben? Zumal in Frankreich, wo etliche Filmemacher mit Netflix arbeiten möchten, weil sie sich eine größere und sozusagen mühelosere internationale Ausstrahlung erhoffen, tun sich Abgründe auf. Ein Zankapfel sind die Autorenrechte, namentlich das Recht auf den final cut, der in Frankreich meist einvernehmlich zwischen Regisseuren und Produzenten ausgehandelt wird. Der amerikanische Partner ist andere Machtverhältnisse gewohnt, auf denen er strikt beharrt. Ein französischer Agent vergleicht ihn mit einer Boa constrictor, die seinen Klienten die Luft abdrückt, bevor sie verschlungen werden.
Auch in Dänemark formiert sich massiver Widerstand gegen den Streamingdienste (und den Bezahlsender HBO). Die Berufsverbände der Drehbuchautoren, Regisseure und Schauspieler protestieren gegen Vertragsbedingungen, die ihre Urheberrechte empfindlich verletzen. Ein interessanter Sonderfall, denn dänische Film- und Fernsehkünstler können normalerweise von den geringen Gagen nicht existieren, wohl aber von den Tantiemen, die ihnen nach jeder Wiederholung zustehen.
Hier zu Lande wiederum forderten die Arthouse-Kinos im letzten Herbst die Berlinale auf, keine Netflix-Produktionen in den Wettbewerb aufzunehmen. Sie hadern mit der Exklusivität, die die Plattform beansprucht: Sie verweigert, sofern es sich nicht um potenzielle Oscar-Kandidaten handelt, die Kinoauswertung - anders als die Konkurrenz Amazon, die das Fenster des Kinostarts als Beginn der Verwertungskette in Kauf nimmt. So geschah es beim letzten Gus-van-Sant-Film, der im Wettbewerb lief und danach regulär bei uns anlief. Im Netflix-Portfolio bildet „Roma“ mit den angeblich 600 Kinos, in denen der Film weltweit lief, tatsächlich die heroische Ausnahme. Andere hochkarätige Titel wie der neue Film der Coen-Brüder erhielt in den USA nur einen Alibistart. So entstehen Amphibienfilme, die in sämtlichen Distributionsformen konsumiert werden sollen, aber bestimmt nicht in allen funktionieren.
Medienjournalisten prophezeien für dieses Jahr einen erbitterten Krieg der Streamingdienste. Der Markt wächst, verzeichnete im letzten Jahr einen Zuwachs von 30 Prozent. Apple will in das Geschäft einsteigen, Filmstudios mit einem umfangreichen Katalog wie Warner Brothers und Disney (der womöglich nur zu diesem Zweck die Fox erworben hat) planen es ebenfalls. Die Kriegskasse von Netflix scheint gut gefüllt: 2018 wurden 13 Milliarden Dollar in „Content“ investiert. Ich bin nicht sicher, ob die Plattform sich das leisten kann. Mit den 137 Millionen Abonnenten, die sie aktuell für sich reklamiert, lassen sich diese Kosten vorerst nicht refinanzieren. Seit der Firmengründung schreibt Netflix rote Zahlen und häuft von Jahr zu Jahr höhere Schulden an. Aus dem Dokumentarfilm-Segment, das war im Vorfeld von Sundance zu lesen, ziehen sich die Streamingdienste bereits wieder zurück.
Über dieses mögliche Kriegsszenario soll der ursprüngliche Konflikt nicht vergessen werden. Hastings und Sarandos gerierten sich schließlich immer gern als Totengräber des Kinos, das in ihren Augen ohnehin längst obsolet ist. Das stimmt zum Glück noch nicht. Hollywood feiert ein Jahr mit Rekordumsätzen (dank gestiegener Kartenpreise), für Großbritannien und zahlreiche andere Territorien gilt dies ebenso (dank attraktiver Filme); in Deutschland und Frankreich hingegen gingen die Kinobesuche zurück. Derzeit können wir also noch eine mulmige Koexistenz konstatieren. Immerhin sollen 55 % der Netflix-Kunden weiterhin wacker ins Kino gehen. Eine beunruhigendere Zahl kam in einer Stegreif-Umfrange des Londoner „Independent“ zu Tage: Nur 14 % der User wollten „Roma“ im Kino sehen, 43 hingegen daheim – und der Rest überhaupt nicht.
Ich rechne es meinen Freunden mithin hoch an, dass sie Cuaróns Film gemeinsam mit mir im Kino sehen wollten. Sie sind zwar in den letzten Jahren zu bewundernswert ausdauernden Serien-Zuschauer geworden und chronisch auf dem Laufenden, was man unbedingt sehen muss. Dass „The other Side of the Wind“ seit November auf Netflix läuft, hatten sie indes nicht mitbekommen, was mich angesichts ihrer Neugier und unerloschenen Kinobegeisterung erstaunte. Offenbar versenkt die Plattform solche Schätze in die unergründlichen Tiefen ihres Angebots.
Gleichviel, vor ein paar Monaten weihten sie mich erstmals in die fremde Netflix-Welt ein. Wir schauten ein paar Minuten der spanischen Serie „Haus des Geldes“, von deren zweiter Staffel sie indes abrieten. Dank ihr ist angeblich „Bella, ciao!“ zum Sommerhit des letzten Jahres avanciert: ein grimmiger Gesang der Resistenza, der zu einer Hymne guter Laune wird, noch so ein Netflix-Missverständnis? Andererseits lässt es auf ein ein miteinander geteiltes Erlebnis schließen, wie es sich früher einmal bei Straßenfegern im Fernsehen einstellte.
Die Gemeinschaftserfahrung im Kino war uns den happigen Eintrittspreis für „Roma“ wert. Vor dem Fernseher wären die Zwei wohl nicht so glücklich mit ihm geworden. „Ich hätte nach ein paar Minuten umgeschaltet“, sagte Sie über den langsamen Anfang. Ich denke, darin liegt das größte Missverständnis: Daheim kann man ihn anschauen, im Kino aber darf man ihn sehen.
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