Das Privileg der Diagonalen
Paris hat im Kino, grob gesagt, zwei Aspekte: den monumentalen und den volkstümlichen. Der erste ist die Domäne des touristischen, gern amerikanischen Blicks, er umfasst die berühmten Wahrzeichen, die prachtvollen Boulevards und mondänen Hotels. Der zweite zelebriert die Stadt der "kleinen Leute", er findet sich etwa in Filmen von René Clair, Jacques Prévert und von mir aus auch Jean-Pierre Jeunet. Beide Sphären funktionieren wie eine Kurzschrift des Kinos, um die Stadt und vor allem ihre Folklore augenblicklich zu evozieren. Notre-Dame gehört beiden Sphären an.
Gestern stand die Kathedrale in Flammen. Man musste, von den Fernsehnachrichten alarmiert, mit der Sorge ins Bett gehen, nicht nur der hintere Dachstuhl und der Spitzturm würden ihnen zum Opfer fallen, sondern auch die zwei markanten Glockentürme. Nun hat die Pariser Feuerwehr den Brand zwar unter Kontrolle gebracht, aber der Schaden ist unermesslich. Schon jetzt steht außer Frage, dass die Ruine wieder aufgebaut wird. Das ist in diesen Stunden eine nicht nur nationale Ehrensache. So Vieles kommt in dieser Kirche zusammen: Auf einmalige Weise vereinigen sich in ihr Religions-, Architektur- und Kulturgeschichte; seit der Selbstkrönung Napoleon Bonapartes kündet sie auch von republikanischem Stolz. Sie ist dem laizistischen Staat heilig. Aber sie gehört ebenso der Welt, ist ein Touristenmagnet von einzigartig sentimentalem Rang. Vom Eiffelturm hat sie sich nie vollends in den Schatten stellen lassen. Dieser wahrt ja auch gehörigen Abstand. Die Kirche auf der Ile de la Cité steht noch für ein anderes Paris, repräsentiert noch die mittelalterliche Stadt. Seit gut 850 Jahren hat die Kathedrale Revolutionen und Kriegen stand gehalten. Ein Terrorist könnte sich kaum ein anderes Ziel aussuchen, dessen Verheerung die Weltöffentlichkeit derart erschüttern würde.
Aber ich vermute, ohne Victor Hugos Roman "Notre-Dame de Paris" und dessen zahlreiche Verfilmungen wäre sie womöglich kein so mächtiges Emblem geworden. (Andererseits kommt der Originaltitel ja ohne Glöckner bzw. hunchback aus, was auf die zentrale Rolle verweist, die dieses Gebäude im französischen Selbstverständnis spielt). Schon bei Hugo ist es ein Schnittpunkt beider Sphären, hat eine enge Anbindung an das populäre Paris, namentlich mit dem bunten Treiben auf dem Vorplatz und dem verrufenen "Cour des miracles". Für das Innere der Heimstatt Quasimodos interessiert sich das Kino ansonsten nur selten, was erstaunen mag angesichts prächtiger inszenatorischer Möglichkeiten, aber nicht wirklich verwundern muss, denn ein Emblem braucht kein Innenleben, sondern Ausstrahlung. Frontal und aus leichter Untersicht gefilmt, wirkt die Fassade ungeheuer machtvoll.
Die Aussicht, die man von der Spitze der Glockentürme hat, ist freilich verlockender. Dabei verschwindet dieser Drehort nicht vollends: Meist werden die Panoramen der Stadt von einer der Chimären eingerahmt, mit denen man die Kathedrale sofort unzweifelhaft identifizieren kann. Alan Rudolph erzählte mir bei einem Interview über seinen Paris-Film »The Moderns« einmal, sein Vater habe einige der stock shots aus dieser Perspektive gedreht, die in praktisch jedem schwarzweißen Hollywoodfilm auftauchen. Es gibt ein Foto, das Jacques Tourneur neben den Chimären zeigt, was eine hübsch zweifache biographische Bewandtnis hat, da er nicht nur als Regisseur von Gruselfilmen bekannt ist, sondern auch als Second-Unit-Regisseur der »Glöckner«-Verfilmung mit Charles Laughton und Maureen O'Hara fungierte. Der verwinkelte Dachstuhl des Kirchenschiffs wiederum diente zahlreichen Mantel- und Degen-Filmen aus trefflicher Drehort für Fechtduelle. Auch der Platz vor der Kathedrale ist ein Terrain von hohem symbolischen Wert: Als die Résistance in »Brennt Paris?« die Präfektur gegenüber erobert hat und sich erbitterte Gefechte mit den deutschen Besatzungssoldaten liefert, ist das so, als würde um das Herz Frankreichs gekämpft.
Ich kann mich nicht erinnern, dass ich die Kirche seit meiner Schulzeit noch einmal besichtigt habe. Damit halte ich es so wie fast alle Regisseure. Zum unverzichtbaren Inventar des Kinos gehört Notre-Dame als ein Monument, das in sachter Ferne liegen darf. Es reicht, dass es eine verlässliche, selbstverständliche und beruhigende Präsenz im Hintergrund ist. Entkommen kann man diesem Anblick nicht; zumal, wenn man, wie in »Before Sunset« und »Midnight in Paris«, die Buchhandlung "Shakespeare & Co" am gegenüberliegenden Seineufer besucht. Insgeheim jedoch hat das Hollywoodkino einen anderen Lieblingsort, von dem aus es auf Notre-Dame schaut. Vor langer Zeit schon fiel mir auf, dass die romantischsten Szenen in Paris-Filmen auf dem Quai de Montebello und dem Pont au double gedreht wurden. Diese Perspektive hat den unschätzbaren Vorteil der Diagonalen. Sie lenkt den Blick auf die Rückansicht der Kathedrale, also jenen Teil des Kirchenschiffs, der nun den größten Schaden genommen hat.
Diese topographische Vorliebe geht wahrscheinlich auf »Ein Amerikaner in Paris« zurück, wo Gene Kelly auf dem Quai eines Abends Leslie Caron umwirbt. Die Sequenz musste im Studio gedreht werden, weil Kelly entdeckte, dass er auf Pflastersteinen nicht tanzen konnte. In »Charade« nehmen Cary Grant und Audrey Hepburn direkt Bezug auf diese Szene, als sie in den Fußstapfen des Paares an der Seine entlang spazieren. Es gibt nur wenige Brücken, auf denen so viele Filmküsse ausgetauscht wurden wie auf dem relativ kurzen Pont au double. Notre-Dame liegt ganz nahe, aber seine romantische Aura verdankt sich bestimmt auch dem Umstand, dass er ein Bindeglied darstellt: topographisch zwischen der Rive Gauche und der Ile de la Cité, und metaphorisch erst recht.
Der Blick vom Quai de Montebello ist privilegiert. Auch Remi, die lukullisch begabte Ratte aus »Ratatouille«, nimmt ihn ein; das Restaurant, in dessen Küche er heimlich lernt, ist dem berühmten "Tour d'Argent" nachempfunden. Von dieser Warte aus wird das monumentale Paris mit einem Mal intimer und privater. Es bleibt touristisch, aber dieser Blickwinkel wirkt aber entlegen, fast abgeschieden. Hier herrscht Ruhe, der Tumult spielt sich anderswo, vor der Fassade, ab. Es ist das Refugium der Verliebten. 1961 finden sich in »Paris Blues« hier Sidney Poitier und Diahann Carroll wieder. Sie diskutieren über den Rassismus daheim; nur in Paris können sie das. Kurz darauf verschlägt es in »Die vier Reiter der Apokalypse« es zwei weitere Expatrierte, Glenn Ford und Ingrid Thulin, ebenfalls auf den Pont au double. (Es hat mich ohnehin immer fasziniert, dass die schwedische Schauspielerin in 60er-Jahre-Filmen stets auf der nahegelegenen Ile Saint-Louis wohnt; heute könnten sich ihre Figuren die Mieten dort längst nicht mehr leisten.)
Dem französische Kino hingegen ist dieser Blickwinkel erheblich verzichtbarer. Es schweift ungebundener durch Paris. In »Jules und Jim« allerdings flaniert Catherine mit den Titelhelden über den Quai de Montebello: Es ist die Szene, an deren Ende sie unversehens in die Seine springt. Wenn ich mich recht erinnere, schwenkt die Kamera kein einziges Mal zur Kathedrale empor. Truffaut vertraut darauf, dass sie es nicht braucht. Seine Zuschauer finden sich schon zurecht. Sie wissen: Notre-Dame weicht nicht von ihrem Platz.
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