Zweitklassig
Gestern bekam ich Post aus Braunschweig. Die Presseabteilung des Internationalen Filmfestivals verkündete eine frohe Botschaft: Das Fest hat vier neue Preise bekommen. Wie die meisten frohen Botschaften war auch diese etwas unscharf formuliert. Zweifellos hätte es erheblichen Nachrichtenwert, wenn ein Festival einmal selbst eine Auszeichnung erhielte. Meines Wissens ist dergleichen noch nicht geschehen. Und dann gleich vier!
Die Wirklichkeit ist jedoch weniger wunderreich: Tatsächlich werden nur vier weitere Preise vergeben. Dieser Zuwachs wird die Abschlusszeremonie etwas verlängern, allerdings besteht keine Gefahr, dass sie oscarreife Dimensionen annimmt. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie knapp sie getaktet ist (elf Minuten für eine Laudatio auf Olivier Gourmet, keine mehr, keine weniger). Und anders als der Academy in Los Angeles sitzt den Braunschweigern auch nicht ABC im Nacken. Es besteht also kein Empörungsbedarf. Bemerkenswert finde ich die Meldung insofern dennoch, weil sie eine Tendenz bestätigt, die sich auf vielen Festivals hier zu Lande zeigt: In ihrem Rahmen werden immer mehr Preise verliehen, die nur existieren, weil es einen Sponsor für sie gibt. Häufig sind sie gut dotiert, was die Preisträger freuen darf und die Spender nicht schmerzt. Allerdings decken sie keine Facetten der Filmkunst ab, die bislang übergangen wurden. Sie schärfen das Profil der Festivals in aller Regel nicht. Bedenklich erscheint mir an dieser Entwicklung zudem, dass sie damit etwas von ihrem Hoheitsrecht aus der Hand geben.
Womit wir bei dem neu erfundenen Oscar sind, den die Academy of Motion Picture Arts and Sciences im nächsten Jahr erstmals vergeben wird. Sie tut es auf Geheiß des Fernsehsenders ABC, der ihr alljährlich für die Ausstrahlung der Oscar-Verleihung 75 Millionen Dollar zahlt, was etwa die Hälfte des Etats der Filmakademie abdeckt. Das ist eine stolze Summe, aber eine lohnende Investition für den Sender, der in den Werbepausen ein Heidengeld verdient. Nun macht er sich jedoch Sorgen, seit die diesjährige Verleihung die schlechteste Einschaltquote aller Zeiten hatte (nach anderen Quellen: seit 1974). In der neuen Kategorie, die fortan die Attraktivität der Sendung steigern soll, wird die „Herausragende Leistung im populären Film“ ausgezeichnet.
Auch diese Botschaft ist etwas unscharf. Wie definiert man einen populären Film? Bemisst sich seine Beliebtheit nur am Einspielergebnis? Ich bin nicht einmal sicher, ob die größten Kassenschlager wirklich mehr geliebt werden als ihre Konkurrenz. Vermutlich gehen viele Leute sogar eher unfreiwillig in sie hinein - weil sie mitreden wollen, teilhaben wollen an einem umfassenden, gar Gemeinschaft stiftenden Phänomen, weil sie die vorangegangene Episode des Franchises eben auch schon gesehen haben oder weil im Multiplex schlicht keine Alternative lief. Noch schwieriger wird es bei der Frage, wie nachhaltig diese Popularität ist. Aber die dürfen für getrost verschieben, denn an die Hits des vorangegangenen Jahres erinnert man sich im Februar wahrscheinlich doch noch.
Der Wunsch von ABC war da sprachlich eindeutiger: Sie hätten es gern gesehen, wenn der Oscar für den „Best Blockbuster“ vergeben würde. Das ist ein wenig absurd, denn das könnte man anhand des Einspiels errechnen, darüber müssten die Mitglieder der Academy nicht erst abstimmen. Dennoch besitzt es für den Sender, genauer; dessen Besitzer eine unbestreitbare Logik: ABC gehört zu Disney, die seit dem Kauf von Lucas Film, Pixar und Marvel das Feld der Blockbuster dominieren und dies umso mehr tun werden, wenn die Fusion mit Fox im Frühjahr 2019 perfekt ist. Ein geradezu diabolischer Synergieeffekt. Hut ab!
Allerdings ist es fraglich, ob sich die Hoffnung des Senders, mit dem Preis das jugendliche Publikum anzusprechen, erfüllen wird. Das sieht doch angeblich ohnehin nicht mehr fern. Überdies hat sich gezeigt, dass Publikumspreise beispielsweise der Zeremonie der Europäischen Filmakademie (oder seit diesem Jahr den französischen César) mitnichten Glanzlichter aufsetzen. Jedoch trifft die Entscheidung mitten ins Herz der Krise, in der sich die Academy seit langer Zeit befindet. Das geflügelte Wort, die Eltern verleihen die Oscars, während ihre Kinder für Kassenerfolge verantwortlich sind, besitzt nach wie vor eine gewisse Triftigkeit. Mit dieser Kluft ließ sich leben – immerhin trägt die Academy die Filmkünste stolz im Namen -, solange die TV-Quoten der Verleihung stimmten. Im Kern war Oscar-Verleihung immer ein Alibi, das der Industrie ein Prestige geben wollte, das jenseits des Mainstream vermutet wurde. Aber längst bangt sie aus noch anderen Gründen um ihre Relevanz, steht etwa in der Kritik, weil sie die ethnische oder geschlechtliche Diversität nicht ausreichend abbildet.
Der Vorstoß war vorerst ein PR-Desaster für die Academy, die damit keines ihrer Probleme löst, sondern eher noch zusätzliche schafft: Die Preise für den Blockbuster und den Besten Film könnten sich durchaus gegenseitig entwerten. Die mediale Empörung war auf wahrscheinlich allen fünf Kontinenten enorm und einhellig. Offenbar sind uns die Oscars auch nach Jahrzehnten der Entzauberung noch immer heilig. Auch ich teile die Entrüstung, wenngleich ich sie nicht ganz verstehe. Die Diskussion über den Graben, der nun möglicherweise noch zwischen Kunst und Kommerz vergrößert wird, führte mir insbesondere die ambivalente Haltung vor Augen, die viele amerikanische Kollegen dazu einnehmen. Die Einführung eines „populistischen“ Preises scheint an die Grundfesten auch ihres Selbstverständnisses zu rühren. Erfolg und Publikumsresonanz eines Films sind Faktoren, die sie nicht einfach ignorieren können. Einerseits sehen sich US-Filmkritiker traditionell als Repräsentanten des Publikums und legen deshalb eine gewisse Nachsicht an den Tag: Ein Film, der viele Leute anspricht, hat seine Berechtigung. Darin artikuliert sich häufig ein gönnerhafter Opportunismus, denn eigentlich sind sie über Trivialitäten erhaben und müssen sich als Kritiker ohnehin durch distanzierende Kennerschaft legitimieren. Dieser Spagat zwischen Augenhöhe und Abstand findet heute, wo die klassischen Medien in arger Bedrängnis sind, in einem Plauderton statt, der signalisiert: Der Kritiker ist einer von uns, er weiß es nur besser. Natürlich existiert nach wie vor die Instanz des strengen Kunstrichters. Auch ihm dämmert, dass er sich gegenüber seiner Leserschaft legitimieren muss.
Gleichviel. Eine weitere Neuerung bei den Oscars, ebenfalls dem Druck von ABC geschuldet, empört mich weitaus mehr: Da die Verleihungszeremonie sich immer mehr aufbläht (in diesem Jahr dauerte sie vier Stunden), sollen einige der derzeit 25 Oscars in den Werbepausen vergeben werden. Dass ABC die Zuschauer der Verleihung vorrangig als Konsumenten betrachtet, lässt sich nachvollziehen. Die Academy jedoch ist der Filmbegeisterung verpflichtet. Sie untergräbt die eigene Integrität, beraubt sich ihrer Raison d' être, wenn sie zulässt, dass Preise als Störfaktor wahrgenommen werden. Es gäbe elegantere Maßnahmen, die Veranstaltung zu entschlacken. Ich fand schon die Auslagerung der Ehren-Oscars eine Schande, die nicht nur hohen sentimentalen Wert gewinnen konnten, sondern oft Gesten der Wiedergutmachung waren für sträfliche Unterlassungssünden.
Wahrscheinliche Kandidaten, deren Ehrung fortan in der Ellipse stattfinden soll, sind die Kurzfilm-Oscars. So wird dem Fernsehpublikum die Chance vorenthalten, Nachwuchstalente zu entdecken, die ihnen später vielleicht einmal als Gewinner eines Hauptpreises wieder begegnen könnten. Ist diese Flanke erst einmal offen, könnte man rasch weitere Kategorien ins Visier nehmen, die wenig Glamour verheißen.
Da würden sich beispielsweise diverse technische Preise anbieten. Das wäre zwar peinlich, da die Academy schließlich auch die „Sciences“ in ihrem Namen hochhält und sich momentan notgedrungen die Vielfalt auf die Fahnen schreibt, aber nicht auszuschlie0en. Und ziemlich bald könnte man sich fragen, ob nicht auch die Dankesreden der besten Kameraleute, Cutter und Kostümbildner ein retardierendes Moment sind. Eine der vornehmsten Aufgaben der Filmakademie ist es, das Kino als Gemeinschaftskunst zu feiern. Sie muss dem komplexen, arbeitsteiligen Charakter der Filmherstellung Rechnung tragen. Eine, die es geniert, dieser Haltung bei ihrer Preisverleihung angemessen Ausdruck zu verleihen, wird nicht nur ihre Relevanz, sondern auch ihre Seele verlieren.
Kommentare
»Niedere« Oscars
ABC und die Academy haben ein schlechtes Gedächtnis. Schon einmal — bei der 77. Oscarverleihung 2005 — wurden »niedere« Kategorien im Rudel oder im Saal abgefertigt. Im Jahr darauf hatte sich der Spuk zum Glück erledigt, die Produzenten hatten ihre Lektion gelernt, sollte man annehmen. Nun also droht eine Neuauflage, was angesichts der derzeitigen Schwemme von Remakes und Sequels nicht verwundert.
Man nehme neben der neuen Kategorie »Best Blockbuster« noch »Best Villain«, »Best Kiss« und den unsäglichen Chris Rock als Moderator hinzu, der das Publikum anplärrte, statt es anzusprechen (hat ihm niemand die Funktion seines Mikrophons erklärt?), und wir bekommen nächstes Jahr »The 77th Academy Awards 2.0 meets MTV Movie Awards«. Thanks to the Academy!
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