Zwei Welten, mindestens
Wenn es nach Baruchs Vater gegangen wäre, hätte es eine Veranstaltung wie das Jüdische Filmfest Berlin&Brandenburg nie geben dürfen. Der Rabbiner hätte schon versucht, den Anfängen zu wehren. Auf die bange Frage des Sohnes liefert ihm die Tora eine klare Antwort: Nein, ein Jude kann kein Schauspieler sein!
Glücklicherweise kam es anders, in der Wirklichkeit ebenso wie in E.A. Duponts „Das alte Gesetz“. Die Aufführung der restaurierten Fassung von E.A. Duponts Stummfilm war für mich eines der Glanzlichter der diesjährigen Berlinale und schickt sich nun an, dies auch beim gerade laufenden Festival zu sein, welches das schöne Motto „No fake jews“ trägt (jffb.de) und ohnehin nicht arm an Höhepunkten ist („Tesnota“, „Foxtrot“, „Disobedience“, ein historischer Schwerpunkt um die Hedy-Lamarr-Doku „Geniale Göttin“ etc.).
Baruch, der von Ernst Deutsch höchst ergriffen und später auch hoheitsvoll gespielt wird, entkommt tatsächlich der Enge des väterlichen Hauses und des Schtetls „irgendwo an der russischen Grenze“. Allerdings versenkt sich Dupont sehr liebevoll in das Brauchtum und den Zusammenhalt dieses Milieu, das der Zuschauer während der Vorbereitungen des Purim-Festes kennenlernt. In dieser abgeschiedenen, kleinen Welt will man, wenn auch mit sittlichem Abstand, am Treiben in der großen Teilhaben. Der Schnorrer Ruben Pick, der im Haushalt des Rabbis gern gesehen ist, stellt das Bindeglied dar. Er klärt den Vater darüber auf, dass Schauspieler draußen hoch verehrte Leute sein können. Baruch folgt seiner Bestimmung, die ihn über eine Wanderschmiere geradewegs zum Wiener Burgtheater führt. Auch diese Welt ist mit großer, verschmitzter Sympathie gezeichnet, angefangen bei der Komödiantin, die empört verkündet „Ich habe keine Proben nötig, ich bin ja Schauspielerin!“, bis zum Direktor der Burg, der ein großes Talent erkennt, wenn es vor ihm steht (auch wenn es, ganz untypisch für den Beruf, keinen Vorschuss verlangt).
Unter dem Patronat der verliebten Erzherzogin (Henny Porten verleiht der melodramatischen Rolle durchaus muntere Facetten) wird Baruch in einen Kosmos der galanten, beruflichen und mondänen Verlockungen gestoßen. Auch bei Hofe und auf dem Theater gibt es Gesetze, die niemand übertreten darf. Zudem herrscht in Wien ein beiläufig virulenter Antisemitismus: „Ein Romeo mit Judenlocken!“ verspottet ihn eine ölige Hofschranze; Baruch wird sie tatsächlich vor seinem Debüt abschneiden. Sein Durchbruch als Hamlet wird fast durch seinen Glauben vereitelt, denn die Premiere findet während des Versöhnungsfestes statt. Die Leidenschaft für die Bühne obsiegt, allerdings trägt er das Gebetbuch unter dem Herzen im Kostüm versteckt. Hier gibt es eine Parallelmontage zwischen dem „Kol Nidre“ im Schtetl und der Aufführung in der Burg, die so großartig ist wie das Finale des ersten „Paten“; der Schnitt von der Empore der Synagoge zur Loge der Erzherzogin ist genial.
Mit Dupont und seinen Melos aus der Unterhaltungsbranche habe ich mich in den letzten Monaten schon mehrfach beschäftigt (am 21. 3. sowie am 3. 6.). in „Das alte Gesetz“ nimmt er 1923 die anstößige Kunst in Schutz gegen die Verharrungskräfte der Gesellschaft. Wiederum agiert Ruben Pick (ein toller Name, nicht wahr?) als Vermittler, der gegenüber dem strengen Rabbi mit Shakespeare argumentiert. Der muss den Band erst einmal andersherum aufschlagen, da er eine andere Schreibrichtung hat als die hebräische Sprache. Aber die Annäherung braucht Zeit, der Vater muss erst Baruch in der Rolle des verstoßenen Sohnes in „Don Carlos“ erleben, um sich mit ihm und seiner Welt zu versöhnen, die „voller Zauber und Schönheit“ ist.
Ich habe „Das alte Gesetz“ erstmals Mitte der 1980er Jahre gesehen, als er gerade restauriert worden war. Auf der Berlinale war er in ganz neuer, ganz anderer Pracht zu entdecken: dank der neuen digitalen Rekonstruktion, die Material aus sieben Kopien vereinigt. Eine beispielhaft internationale Zusammenarbeit von Filmarchiven. Auf der exzellenten DVD-Edition von „absolut Medien“ (das Bonusmaterial umfasst ein zeitgenössisches Quasi-Making-of und ermöglicht den Vergleich der unterschiedlichen Ausgangsmaterialien) ist er nun zweifach neu zu entdecken, denn die jeweilige Klangrede der Musikeinspielungen verändert das Seherlebnis radikal. Ich war gespannt, welche Variante am Freitag (29.6.) um 19 Uhr im Filmmuseum Potsdam laufen wird, bin allerdings nicht überrascht zu erfahren, dass es die Vertonung des Stummfilmpianisten Donald Sosin sein wird, der im Duett mit der Klezmer-Violinistin Alicia Svigals musiziert. Für sie spricht ihre im guten Sinne folkloristische Empfänglichkeit für das, was in den Szenen zu sehen ist. Sie setzt Ausrufezeichen, vollzieht die Handlung geschmeidig und munter nach. Wenn Johann Strauß bei Hofe aufspielt, ist von den Zweien tatsächlich ein beschwingter Walzer zu hören.
Dazu lässt sich Philippe Schoeller nicht verlocken, von dem die Musik stammt, die auf der Berlinale Premiere hatte und nun am Sonntag (1. 7. ) im Zeughaus erklingen wird. Er ist eine der großen Figuren der französischen Moderne, hat die Filme seines jüngeren Bruders Pierre („Versailles“, „Der Aufsteiger“) vertont und einige Aufsehen erregende Partituren für Stummfilme komponiert, darunter die zu Abel Gance' „J' accuse“, die in Berlin im September im Rahmen des Musikfestes erneut zur Aufführung kommt. Seine Deutung des Dupont-Films verzichtet radikal auf alles Illustrative. Seine Kammermusik lässt sich nicht ins Schlepptau von Inszenierung und Montage nehmen (obwohl ich denke, dass sie sich schon ein wenig an Theodor Sparkuhls Lichtsetzung inspiriert hat), sondern verleiht dem Sichtbaren eine zusätzliche Ebene. Diese unverhoffte Färbung revidiert nicht, was zu sehen ist, aber sie ahnt, was hinter den Bildern liegt. Sie begreift es auch. Erst schwelt sie nur. Sie kann schweigen, ist aber psychologisch beweglich, kennt den Tumult, der in den Figuren tobt. Sie erhebt sich nicht über Duponts Film. Aber sie trägt ihn stracks in die Gegenwart.
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