Unmögliche Erinnerung
Die Bilder, die ich vor Augen hatte, waren nicht in Farbe. Vielmehr war die Szenerie, die sich meinen Ohren darbot, in Schwarzweiß gehalten. Es war kein kontrastreiches Helldunkel, sondern eher ein verhangenes Grau. Also durchaus eine gewisse Abkühlung in diesen Tagen, wo einfach kein Ende der sengenden Hitze abzusehen ist.
Es trifft sich, dass Hitchcocks »Vertigo« in Frankreich unter dem Titel »Sueurs froides« lief und kalten Angstschweiß in Aussicht stellte. Der lief mir zwar am letzten Sonntag nicht den Rücken herunter, als ich Regine Ahrems Hörspielbearbeitung des Films lauschte. Aber an einem Nachmittag, wo alle Welt ächzend ins Sonnenlicht drängt, ist es allemal eine Erfahrung des Aus-der-Zeit-Fallens, daheim Radio zu hören; nicht nur wegen der akustischen Illusionsmaschinerie des Genres, die uns heute so rührend unentwegt und arglos erscheint. Im Sommer sind die Forderungen der Gegenwart lebhafter, zwingender. Sich da in die ungewisse, labyrinthische Vergangenheit dieser Geschichte zu begeben, ist schon eine ziemliche Geste der Entrückung.
Das Hörspiel evozierte, wie gesagt, keine farbigen Bilder wie aus Hitchcocks Film. Ich stellte mir die Ereignisse eher in den Schattierungen vor, die im französischen Kriminalfilm der 1950er vorherrschten, als Boileau und Narcejac die Romanvorlage "Aus dem Reich der Toten" schrieben. Dabei hatte ich die Autoren auch insofern auf meiner Seite, als sie im Buch einmal die Frage aufwerfen, wie man träumt. "Nur schwarzweiß", erwidert ihr Held entschieden, "wie im Kino." Regine Ahrems Bearbeitung behält zwar den Schauplatz Paris und die Namen der Romanfiguren bei, orientiert sich aber weitgehend an der Dramaturgie des Films und dessen Dialogen (darunter dem einzigen, der mir bei Hitchcock wie ein wirklicher Krimisatz vorkommt: "Ein Andenken an einen Mord hättest du nicht aufheben sollen!"). Das ist pragmatisch, denn die Drehbuchautoren, darunter federführend Samuel Taylor, nahmen eine bezwingende, topographische wie szenische Verdichtung gegenüber dem Roman vor. Ahrem baut gleichsam eine Brücke zwischen Buch und Film, oder genauer: das Gerüst dazu, denn ihr Hörspiel dauert kaum eine Stunde.
Ich habe an dieser Stelle schon mehrfach über ihre Sendereihe »Hollywood on Air« geschrieben, in der sie verschmitzt an die Tradition anknüpft, Filmstoffe für den Rundfunk zu adaptieren (in den Einträgen "Hörkino 1" vom 28.5. 2015 sowie "Hörkino zum Sehen" vom 21.1. 2016). Mit »Vertigo« hat sie sich nun einer unmöglichen Herausforderung gestellt. Was soll vom getragenen Rhythmus von Hitchcock atmosphärisch stärkstem Film übrig bleiben, wenn man ihn auf 54 Minuten komprimiert? Seine Anziehungskraft ist eminent visuell, er ist ein Strudel hypnotischer, traumverlorener Bilder - eine seiner wichtigsten Passagen, Jimmy Stewarts erste Beschattung von Kim Novak, kommt eine Viertelstunde lang ohne jeden Dialog aus. Handlung und Bildsprache sind eine Kaskade faszinierend drapierter Ornamente, die sich nicht auf eine Skizze herunterbrechen lässt. Natürlich stellt sich der schwermütige Zauber des Films nicht ein, zumal der Erzähltext in der nüchternen Prosa von Regieanweisungen abgefasst ist, denen es an suggestiver, stimmungsvoller Dramatik gebricht. Die Sprecher sind gut, und die Todesschreie, der des Polizisten im Prolog und der spätere von Madeleine, gehen einem durch Mark und Bein.
Indes weckte das Hörspiel (es ist gewiss noch in der Mediathek von rbb kulturradio abrufbar und zudem als Hörbuch auf CD erhältlich) meine Lust, den Roman noch einmal zu lesen. Ich hatte völlig vergessen, dass er während des Zweiten Weltkriegs spielt und dadurch noch einen ganz anderen Hintergrund, ja Drall, bekommt. Er scheint mir nicht so misanthropisch, wie die Fürsprecher der Verfilmung stets behaupten. Ich habe die letzten anderthalb Tage gern in der Gesellschaft der Charaktere verbracht. Das Buch beschreibt Suchbewegungen, die der Film intensiver und stringenter vollzieht. Truffaut behauptete gegenüber Hitchcock, der Roman sei explizit für ihn geschrieben worden, was die Autoren jedoch stets bestritten. Es ist bestrickend, ihn als Lektion in Sachen Adaption zu lesen, unter dem Aspekt, was Hitchcock an den Stoff interessieren und was er klug verwerfen konnte. Und selbst danach bleibt noch eine Menge übrig.
Dass die Ursendung des Hörspiels am 29. Juli stattfand, dem Geburts- und Todesdatum von Chris Marker (das mich im vorangegangenen Eintrag beschäftigte), ist ein geistreicher Zufall. »Vertigo« gehörte zu seinen Lieblingsfilmen, war vielleicht gar der eine, entscheidende. Er hat seine Wahrnehmung filmischer Zeit maßgeblich geprägt, ebenso wie seine Auffassung von Erinnerung, die für ihn nicht einfach das Gegenteil des Vergessens war. Es sei der einzige Film, der von einer unmöglichen, verrückten Erinnerung handelt, heißt es im Erzählkommentar von »Sans Soleil«. In der zweiten Hälfte seines Films geht er in San Francisco auf Spurensuche und entdeckt, "dass Hitchcock nichts erfunden hatte, alles war da". Marker steht im Bann des Films, der eine abgrundtiefe Resonanz zwischen seinen Schauplätzen und seiner Intrige herstellt. In »La Jetée – Am Ende des Rollfelds« zitiert er schon 1962 die Szene mit den Jahresringen des uralten Baums, die ihn zwei Jahrzehnte später erneut beschäftigen sollte.
Als »Sans soleil« 1983 in Deutschland herauskam, stellten Markers Zitate für viele Zuschauer wohl die erste Begegnung überhaupt mit »Vertigo« dar, den Hitchcock seit einigen Jahrzehnten aus der Verkehr gezogen hatte. (Noch so ein espritvoller Zufall: Das Datum des Deutschlandstarts, der 28. Oktober, fällt zusammen mit der Premiere der Wiederaufführung in den USA.) Marker besiegelte die Wiederkehr des verlorenen Films. Als er vor ziemlich genau 60 Jahren herauskam, zählte er zu den ungeliebteren Filmen in Hitchcocks Oeuvre. Mittlerweile hat er »Citizen Kane« von der Spitzenposition der Kritikerliste verdrängt, welche die Zeitschrift "Sight and Sound" alle zehn Jahre veröffentlicht. Im Licht der #MeToo-Debatte ist fraglich, ob ihm dies bei der nächsten Erhebung erneut gelingen wird. Der "male gaze", der sich in ihm manifestiert, steht momentan jedenfalls nicht hoch im Kurs.
Dass seine Geschichte sich auch ganz anders erzählen lässt, führt der franko-kanadische Regisseur Bertrand Bonello in einem unverfilmten Drehbuch mit den Titel "Madeleine d'entre les morts". Der Regisseur von »Der Pornograph«, »Haus der Sünde« und »Nocturama« wählt den Blickwinkel von Judy, der eigentlichen Identität der Kim-Novak-Figur. Er erzählt ihre Geschichte, voller unterdrückter Tränen und verschlissener Träume. Das ist ungemein ergiebig, nicht nur als „aufgeklärte“ Umkehrung, welche die Geschehnisse gegen den Strich liest. Anfangs ist das Drehbuch eine Reflexion über das Erarbeiten einer fremden Rolle und über männliche Schauspielerführung als verheerende Anmaßung. Dann wird es zum wehmütigen Sprungbrett eigener Phantasien und Sehnsüchte. Es findet zu einem ganz anderen Ende als Hitchcocks Film. Es gibt ihm eine wirklich neue Gestalt. Übrigens hat Bonello dafür auch den Roman von Boileau und Narcejac noch einmal gelesen. Dort ist die Rede von einem deutschen Film namens „Jacob Boehme“, den der Detektiv und sein Auftraggeber einmal in ihrer Jugend gesehen haben. Bei Bonello ist es ein Stummfilm von 1920, den die Verschwörer studieren, weil sie dort das Vorbild für die Carlotta in ihrer Inszenierung entdecken. Jacob Böhme hat es wirklich gegeben, er war ein deutscher Mystiker. Meine Recherchen nach dem Film waren im Netz jedoch erfolglos. Manchmal führt ein Geisterfilm zum nächsten.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns