Nur mit Kindersicherung

Es ist anregend, ein vertrautes Wort in ungewohnter Bedeutung zu entdecken; fast so, als würde die Welt eine ungekannte Nuance hinzugewinnen. „But lately he had grown modest and private“ fällt Lisa auf, als sie morgens ihren Ziehsohn Kolya weckt, der nun darauf besteht, dass sein Bett durch einen Vorhang vom Rest ihrer kleinen Wohnung abgeschirmt wird.

Das eingangs beschriebene Phänomen stellt sich freilich nur beim Lesen des englischen Originals ein; die deutsche Übersetzung von DM Thomas' Roman „Das weiße Hotel“ wird das „modest“ gewiss in „schamhaft“, und nicht etwa das geläufige „bescheiden“, übertragen haben. Im vorletzten Kapitel des Buchs treten Mutter und Sohn erwartungsvoll eine Reise an, die sie 1941 von Kiew aus in eine neue Heimat nach Palästina führen soll, tatsächlich aber ein entsetzliches Ende nimmt. Der Roman des britischen Dichters und Übersetzers ist ein unbescheidenes Buch, das seine Heldin alle Schrecken der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchleben und Sigmund Freud höchstselbst auftreten lässt. Die orgiastische Schilderung erotischer Träume brachte seinem Autor 1981 den Vorwurf der Pornografie ein, was förderlich für den Verkauf war und rasch die Begehrlichkeiten von Filmstars und Produzenten weckte. Auf die Leinwand hat es keiner der zahlreichen Versuche einer Adaption gebracht. Aber nun hat sich die fabelhafte BBC-Reihe „Unmade Movies“ (siehe „Hörkino 3“ vom 9. 11. 2015) dieses unerledigten Fiebertraums angenommen.

Nicht nur angesichts der drastischen, einfallsreichen Anschaulichkeit seiner erotischen Szenen darf das brennende Interesse des Kinos an „The White Hotel“ erstaunen. Auch die Struktur des Romans leistet heftigen Widerstand gegen eine etwaige Adaption, denn das Erzählen legt sich raffiniert über das Erzählte. Anfangs schildert Thomas dieselben Ereignisse in vier Variationen, wobei er nur einmal die Perspektive wechselt, aber immerzu die Form: Zunächst notiert die junge Opernsängerin Lisa ihre Träume auf dem Libretto von „Don Giovanni“, das sie einstudiert; danach gibt sie ihnen literarische Prosaform; sodann deutet Freud sie in einer Fallstudie, zu der Lisa schließlich in einem Brief Stellung nimmt.

Dieses nuancenreiche Spiel um Wahrheit und Selbsttäuschung ist bestrickend. (Es traf sich, dass ich den Roman auf Bahnfahrten las, denn die erotischen Phantasien nehmen in einem Zugabteil ihren Anfang.) Allerdings ist der Leser irgendwann heilfroh, wenn die Handlung neue Richtungen einschlägt und Lisas Lebensgeschichte endlich weitergeht. Indes löst der Roman sich auch nach diesem Befreiungsschlag nie ganz aus den Fesseln der Analyse, sondern greift deren Techniken in der Wiederholung und dem Zirkulieren bestimmter Bilder und Motive auf. Beim Lesen wird immer deutlicher, wie sich die Wirklichkeit in Lisas Träume fügt, das Geträumte aber später auch eine furchtbare prophetische Macht gewinnen soll.

Ein Drehbuch müsste dem Roman eine ganz andere Struktur entgegensetzen, müsste ihn vom Kopf auf die Füße stellen. Das scheint Dennis Potter vor rund 30 Jahren trefflich gelungen zu sein. Zumindest lässt dies nun die zweifellos stark gekürzte Hörspielfassung seines Szenarios vermuten. Sie ist noch eine Woche lang auf der Website von BBC4 abrufbar (https://www.bbc.co.uk/programmes/b0bgvdmf ). Ihr ist als Bonusmaterial eine etwa zehnminütige Dokumentation vorangestellt, in der Thomas, seine enthusiastische Lektorin, ein Jurist sowie der Regisseur Jon Amiel (der mit Potter schon bei der TV-Serie „The Singing Detective“ zusammenarbeitete) und die Sprecherin der Lisa, Anne-Marie Duff (sie war gerade als die andere Mutter in „Am Strand“ zu sehen), über die bewegte Publikationsgeschichte des Romans und die noch bewegtere des Scheiterns seiner Verfilmung sprechen.

Letztere ist so verwickelt, dass sie in der Radiosendung nur angerissen wird. DM Thomas selbst hat ihr ein eigenes Buch gewidmet, „The Bleak Hotel“, das über lange Passagen auf Hörensagen beruht, denn nach dem Verkauf der Filmrechte blieb er von der Umsetzung weitgehend ausgeschlossen. Barbra Streisand interessierte sich als Erste für den Stoff, hatte als Regisseur zunächst Mark Rydell im Auge, der aber nichts mit ihm anfangen konnte und durch einen postmoderneren Filmemacher abgelöst werden sollte: Bernardo Bertolucci, dem man zutraute, dass er die Sexszenen hinbekommen würde, der Streisand allerdings mit seinen Ideen verschreckte und sich ohnehin lieber auf Freud und die Analyse konzentrieren wollte. Cronenberg, Almodóvar und Kusturica waren als Regisseure im Gespräch, Anthony Hopkins und Ralph Fiennes für die Rolle des Analytikers. Lisa zu besetzen, wäre ungleich komplizierter, denn ihre Geschichte erstreckt sich vom Beginn des Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg; Meryl Streep, Nicole Kidman und Isabella Rossellini wurden für sie gehandelt. Thomas erzählt launig, wie erfindungsreiche Schicksalsschläge die Verfilmung regelmäßig verhinderten. Die faszinierendste Idee der Produzenten, denen er die Rechte verkauft hatte, erwähnt er nicht: Sie wollten Terrence Malick aus dem Ruhestand holen, was ihnen jedoch erst einige Jahre später mit „Der schmale Grat“ („The Thin Red Line“) gelang.

Als Dennis Potter ins Boot kam, war David Lynch als Regisseur vorgesehen. Kaum vorstellbar, dass zwei so eigenwillige Temperamente an einem Strang ziehen könnten. Potter war im britischen Fernsehen eine künstlerische, wenn nicht gar moralische Institution, der sich Regisseure dankbar unterordneten. (Und schreibt Lynch seine Drehbücher nicht immer selbst?) Tatsächlich scheinen die kreativen Differenzen zwischen ihnen gering gewesen zu sein („Dieser Film wird die 'Madame Bovary' unserer Zeit!“). Das Hörspiel verrät eindeutig die Handschrift des Drehbuchautors. Nicht von ungefähr trägt es den Titel „Dennis Potters 'The White Hotel'“. Thomas' Großmut muss bewundernswert sein.

Es handelt sich allerdings auch um eine resolut freie Adaption seines Romans. Aus der Opernsängerin Lisa ist eine Trapezkünstlerin geworden, was nicht nur visueller gedacht und dramatischer ist (Oper ist langsam), sondern auch Konsequenzen für die Zeichnung weiterer Figuren (Victor und Vera sind als Zirkusleute weit rustikalere Naturen) hat. Der Analytiker heißt nicht mehr Freud, sondern Probst und praktiziert in Berlin, wo Potter ungleich pragmatischer den Aufstieg des Antisemitismus (den Lisa rücksichtsvoll vor Freud verbergen wollte) schildern kann. Die Montage unterschiedlicher Zeitebenen ist rasant, flink und gewandt  changiert der Hörfilm zwischen dem Massaker an den Kiewer Juden in Babi Jar und Lisas Kindheit und Analyse. Bei Potter fügt sich der Traum in die Wirklichkeit. 

In den drei Biographien, die ich konsultiert habe, taucht das Projekt nur marginal auf. Aber dies Drehbuch muss Potter enorm wichtig gewesen sein: Bei einer Gedenkfeier nach seinem Tod wurde es 1994 in New York in verteilten Rollen gelesen (von Rebecca de Mornay, Brian Cox und Len Cariou, da wäre ich gern dabei gewesen). Seine Affinität zu dem Stoff ist immens. In dem Fernsehmehrteiler "Cristabel" hat er eine ungewöhnliche Innenansicht von Nazi-Deutschland dramatisiert; die Psychoanalyse spielt eine wahlweise zentrale (in seiner TV-Adaption von Fitzgeralds „Zärtlich in die Nacht“), vorweggenommene ("Mesmer") oder unterschwellige (die Wiederkehr des Verdrängten in „Track 29“) Rolle in seinem Werk. Krankheit und Heilung waren ein Lebensthema des Autors, der wie Michael Gambon in „The Singing Detective“ an einer furchtbaren Schuppenflechte litt. Kurz nach Potters Tod interviewte ich einmal Richard Avedon, der gerade beim "New Yorker" als Porträtfotograf begonnen hatte und gestand ihm, wie froh ich sei, dass Potter auf seinem Bild noch nicht sterbenskrank aussehe, worauf er antwortete: "Dann bin ich ihm nicht gerecht geworden!"

Im Gegensatz zu dem eher diplomatischen Verhältnis zum Sex, das seinen Landsleuten nachgesagt wird (No sex please, we' re british), beflügelte er Potters Phantasie enorm. Die BBC warnte im Vorfeld, dass diese Sendung nichts für zartbesaitete Hörer sei und hat auf ihrer Seite ein „Parental lock“, eine Kindersicherung, installiert. Aber Potters Drehbuch ist dem Vernehmen nach noch expliziter und saftiger; insbesondere die Szene, in der Lisa ihren Tischnachbarn die Brust gibt, was sich zu einer Orgie auswächst, die am Ende den gesamten Speisesaal des Hotels erfasst. Glauben Sie mir, ich hab' das nicht erfunden.

Potter war, das merkt man nicht nur in „Pennies from Heaven“ und „The Singing Detective“, ein bekümmerter Nostalgiker. Auch in „The White Hotel“ lässt er die Popmusik der 1930er und 40er anklingen. Ob sein Drehbuch auch so argwöhnisch hellhörig ist wie die Radioadaption, die den Hintergrund mit Glockenschläge, Leierkastenmusik und dem Lärm aufmarschierender Nazis füllt? Aber vor allem ist das Hörspiel ein kleines Kabinettstück britischer Sprechkunst: Simon McBurney als Erzähler, der Potters ohnehin schon eminent lesbaren Regieanweisungen lyrische Autorität gibt; der pottererfahrene Bill Paterson als unerbittlich wohlgesonnener Probst; Anne-Marrie Duff als schamhafte Patientin, die nicht die Vergangenheit fürchtet, sondern die Zukunft. Hören Sie selbst, in den nächsten sieben Tagen. Der Auftakt von Potters weißem Hotel ist eine Verlockung, eine unbestimmte akustische Landschaft, wie ein Nebel, aus dem langsam Schemen hervortreten, die sich zu den Gräueln des letzten Jahrhunderts verdichten sollen.

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