Nach den Sternen greifen
Weihnachten und Kino verbindet, dass das Essen mit einer Bedeutung aufgeladen ist, die über die Nahrungsaufnahme hinausgeht. Zu den Feiertagen knüpfen sich hohe Erwartungen daran. Es soll eine genussvolle und gesellige Schlemmerei sein, die Freunde und Familie für eine lange Weile an der Tafel zusammenbringt. Das Essen soll sein soziales und kommunikatives Mandat besonders üppig erfüllen.
Für den japanischen Regisseur Hirokazu Kore-eda gibt es keinen besseren Anlass als eine Mahlzeit, um Figuren zusammen zu führen. Das führt er gerade wieder in »Shoplifters« vor, der in zwei Tagen startet und in dem eine verschworene Gemeinschaft eingangs unverhofft einen Zuwachs erhält, dessen Lebensgeister mit einem Mahl geweckt werden sollen. Es ist zwar kein Weihnachtsfilm, aber in seinen ersten und letzten Szenen ein schöner Winterfilm.
Bei Kore-eda geht es um ebenso bedenkliche wie erfreuliche Komplizenschaften. In vielen Haushalten ist zu Weihnachten nun auch das Zusammenspiel der kreativen Kräfte gefordert; in nicht wenigen wird wohl die Hoffnung groß sein auf kulinarische Höchstleistungen. Dabei wird man sich in der Küche und bei Tisch zahlreiche Geschichten erzählen. Aber wer weiß, wie viele Köche dabei ihre Arbeit selbst als eine Form des Geschichtenerzählens begreift?
In der Gastronomie hingegen scheint sich gerade eine Generation zu formieren, die sich dies auf ihre Fahnen schreibt. Anfang Oktober fand in Berlin ein Festival mit dem Titel »Stadt Land Food« statt, wo ich mit dieser Entwicklung massiv konfrontiert wurde. Während gestern der Rinderbraten per Niedriggarmethode langsam vor sich hin schmorte, las ich noch einmal in der Zeitschrift, die zur der Veranstaltung erschienen war. Darin erteilt der preisgekrönte, aus Österreich stammende Koch Sebastian Frank der Globalisierung der Aromen eine Absage. Deren Verfügbarkeit sei uninteressant geworden, denn "die Leute wollen heute individuelle Geschichten, sie wollen sich berühren lassen." Er fährt fort: "Um so mehr man diese Erzählung herunterbricht, von der österreichischen Küche auf eine regionale Küche und am Ende auf eine, meine Person, umso unmittelbarer kann diese Erfahrung werden." Heute könne er gar nicht mehr anders, als radikal aus seiner Biografie heraus zu kochen.
Mithin versteht er sich als ein Repräsentant dessen, was letzthin immer öfter als "Autorenküche" bezeichnet wird. Als Filmkritiker weiß ich, wie heikel dieser Begriff ist. Regelmäßig schäme ich mich, wenn ich die Vokabel "Autorenfilm" im Munde führe, die gedankenlos den Regisseur als Urheber eines Films setzt, obwohl der doch unweigerlich als Gemeinschaftsarbeit entstanden ist. Die neuen Köche sind da etwas weiter als manche Regisseure. Immerhin rühmen sie gern die Güte der Zutaten und preisen ihre nachhaltig anbauenden Zulieferer. Allerdings habe ich noch selten von einem Koch gehört, der den Beitrag seines Sous-Chefs, Saucen-Kochs oder Patisseurs beonders hervorhebt.
Noch ein weiteres, denkwürdiges Interview lässt das Blatt zu einem Manifest dieser Erzähllust am Herd werden. Darin berichten die Gründer der Organisation "Conflictfood" von ihren kulinarischen Entdeckungen in Krisenregionen. Sie schwärmen davon, wie oft sie dort auf die "wirklich guten, authentischen Geschichten" gestoßen. Ihr Interviewer hakt vorsichtig nach, ob die Geschichte nicht doch manchmal besser schmecke als das Produkt? Das räumen die Zwei auch ein und erinnern an den scheußliche Kaffee aus Nicaragua, den in den 80ern alle Welt trank, um ein gutes Gewissen zu haben. Aber der Safran, den sie in Afghanistan aufspürten, sei tatsächlich der geilste der Welt. Jetzt sei das Land nicht mehr nur für den Drogenanbau bekannt, sondern für begrüßenswertere Unternehmungen, die zudem oft auf weibliche Initiative entstehen. "Da war also diese Geschichte von starken, unabhängigen Frauen", frohlocken sie, "und die wollten wir erzählen." Das klingt für mich zwar so wie die Einlassungen Dieter Kosslicks, der sich dafür lobt, einen Film aus einem Schwellenland in den Berlinale-Wettbewerb gehievt zu haben. Es beschreibt zweifellos eine erfreuliche Entwicklung, aber ich frage mich, ob es die Berichtenden schon zu echten Geschichtenerzählern macht. Dazu braucht es Struktur, Phantasie, Lust an der Erfindung, eine Schwingungsbreite, die der reinen Information fehlt. Durch den Fall Relotius ist das Geschichtenerzählen momentan in Verruf geraten, zwar nicht im Sinne dieser zwei Aktivisten sein kann, die gastronomische Konjunktur dieses Begriffes aber nicht unbedingt aufhalten wird.
Seit einiger Zeit ist zu hören, dass das Storytelling in Wirtschaftsunternehmen als ein Mittel der Sinnstiftung eingesetzt wird; es dient wohl auch der Legitimation. Mich verwundert, dass die Gastronomie dieser Art offensiver Selbstvergewisserung bedarf. Sie muss nicht wirklich um ihre Zukunftsfähigkeit fürchten. Vielleicht aber um ihren Ruf. Anscheinend reicht es nicht mehr aus, gut, tugendhaft und nachhaltig zu kochen. Der Ehrgeiz erfüllt sich nicht mehr darin, nach Michelin-Sternen zu greifen. Er strebt nach einer Auszeichnung höherer Ordnung, für die die Begrifflichkeit der eigenen Disziplin nicht mehr genügt. Die Handwerkskunst muss mit Genie abgeschmeckt werden.
Ich halte es da lieber mit dem Autor Jean-Claude Carrière, der das Erzählen von Geschichten genau andersherum versteht: als alltägliche Nahrung. Für ihn sind sie Werkzeuge der Erkenntnis, die dem Zuhörer oder Leser Rat und Kurzweil anbieten. In »Der Kreis der Lügner«, seinem tollen Kompendium philosophischer Erzählungen aus aller Welt, erklärt er sein Metier zu einem Lebenshandwerk. Das klingt umfassend und zugleich bescheiden. Der gestrige Rinderbraten übrigens geriet etwas zu trocken. Er hat mir keine Geschichte erzählt, nur eine Lehre erteilt.
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