Ein schwebendes Verfahren
Auf dem Papier muss der diesjährige Eröffnungsfilm von Cannes wie ein echter Coup ausgesehen haben: „Offenes Geheimnis“ versprach die ideale Kombination von Starkino und Autorenfilm. Beide Versprechen löst er ein. Trotzdem war die Enttäuschung nach der Premiere groß; namentlich in der deutschsprachigen Festivalberichterstattung.
Wenn Asghar Farhadis Film in dieser Woche bei uns anläuft, wird die Bilanz wohl ähnlich ausfallen - obgleich die Erwartungen nicht mehr ganz so hoch sind und nun vielleicht seine unauffälligeren Qualitäten eher in den Blick genommen werden könnten. Auch meine Begeisterung war verhalten. Mehr als einmal habe ich mich gefragt, ob sich das Erzählsystem Farhadi nicht erschöpft hat (nur diesmal, nicht allmählich oder überhaupt). Aber weit unzufriedener bin ich mit der Kritik, die ich für die aktuelle Ausgabe von epd Film geschrieben habe. Nicht, dass ich etwas zurücknehmen müsste. Aber es gibt viele interessante Aspekte, die ich nicht angesprochen habe. Also nehme ich nun die Gelegenheit wahr, sie zu ergänzen. Da die Handlung sehr verwickelt ist, empfiehlt es sich, die Kritik vor diesem Nachschlag zu lesen.
Farhadis stilistische Meisterschaft scheint mir nach wie vor ungebrochen; sie genügt keineswegs sich selbst: Er ist kein Manierist. Wiederum fand ich seinen Einsatz von Toneffekten ungemein kreativ, etwa die akustischen Übergänge (einmal glaubt man, einen Herzschlag zu hören, bis man entdeckt, dass es das Geräusch eines Scheibenwischers ist) oder der Nachdruck, mit dem ein Klang den Kamerablick lenkt (als beispielsweise Javier Bardem das Knirschen der rostigen Angeln einer Tür hört, die der Wind bewegt, und sodann hinaus auf sein Weingut schaut). Die Sorgfalt, mit der er visuelle Motive durch dekliniert, ist nicht weniger bewundernswert, ich denke etwa an die Kirchturmtreppe des Anfangs, die er später aufgreift im Bild des Treppenlifts, den der gebrechliche Patriarch der Familie benutzt und den später ein Enkel spielend in Besitz nimmt.
Zu seinem Erzählsystem gehört die enge Verknüpfung von psychologischem Drama und Krimidramaturgie. In „Offenes Geheinnis“ weist es einige Schleifspuren auf. Seine Drehbücher sind üblicherweise extrem umsichtig konstruiert, erwägen jede Richtung, die das Drama nehmen könnte. Auch hier bringt er diverse Facetten und Reflexe zum Vorschein. Einen schönen Moment der wachsamen erzählerischen Anreicherung finde ich die Szene, in der die Familie einen pensionierten Polizist um Hilfe bei der Suche nach der entführten Tochter bittet und dessen Tochter sich gerade von ihm verabschieden muss.
Aber ich finde es erstaunlich, dass Farhadi einigen offensichtlichen Spuren nicht folgt. Die Dringlichkeit, die das Asthma der entführten Tochter schaffen müsste - wie lange kommt sie noch ohne ihr Spray aus? -, verliert er bald aus den Augen. In einem waschechten Thriller hätte die Uhr lauter getickt. Aber Farhadi interessiert das unmittelbare Opfer nur in zweiter Linie, er konzentriert sich auf die Angehörigen. Im Erstickungsanfall ihrer Mutter greift er dies Motiv indes auf. Ein schönes, in der Doppelwertigkeit von familiärer und kriminalistischer Ermittlung präsentiertes Indiz sind die schmutzigen, nassen Schuhe, die schließlich auf die Spur der Täter führen. (Der Zuschauer weiß es bereits, aber Farhadi interessieren die Reaktionen darauf.) Schön fand ich, dass die Konsequenzen nur angedeutet werden und die Szene, in der der Verdacht ausgesprochen wird, stumm bleibt: Im Augenblick der Klarheit verschleiert das sprühende Wasser der Straßenreinigung das Bild. Die dank eines brüsken Schnitts unbeantwortete letzte Frage Irenes, der Tochter von Cruz, öffnet den Film wunderbar für das Danach.
Eine generelle Frage, die „Offenes Geheimnis“ aufwirft, betrifft Farhadis Haltung: Liegt ihm mehr an den Situationen und deren moralische Komplikationen, als an seinen Charakteren? Es ist schon merkwürdig, welche Verschiebung von der Penelope-Cruz-Figur hin zu Bardems Konflikt stattfindet; sie gerät regelrecht aus dem Fokus. Das ist fast wie die Übergabe der erzählerischen Stafette, zumal auch Pacos/Bardems Ehefrau Béa stärkere Präsenz gewinnt. Natürlich verlagern sich noch einmal die Gewichte, als Lauras/Cruz' Ehemann aus Argentinien anreist. Der schönste Moment war für mich das Geständnis Alejandros gegenüber Paco, die Geburt Irenes habe ihm das Leben gerettet: ein unverhoffter Aspekt, der die Figur immens vertieft. Ich glaube nicht, dass diese Szene ohne Ricardo Daríns gleichzeitiges Gespür für Alejandros Kränkung funktioniert hätte. Anfänglich wollte Farhadi die Rolle übrigens mit Tom Hanks besetzen: In einer frühen Drehbuchfassung war Laura mit einem Amerikaner verheiratet. Aber dann entschied sich der Regisseur dagegen, einen zweisprachigen Film zu drehen. Er ist ohnehin kompliziert genug.
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