Der Vorteil des Überlebens
Es gab eine Zeit, da bildete ich mir ein, ich könne etwas Schwedisch. Sie liegt schon eine Weile zurück und dauerte nicht lang. Dieser Selbsttäuschung erlag ich während einer Ingmar-Bergman-Retrospektive, die in den späten 1980ern im Berliner Arsenal lief. Nach einer Woche kam mir die Sprache so vertraut vor, dass ich überzeugt war, sie auch ohne Untertitel zu verstehen.
Es war Ehrensache für mich, die Filme nur bei ihren Originaltiteln zu nennen. Sie bereiteten mir lautmalerischen Genuss. »Wilde Erdbeeren« heißt seither für mich »Smultronstället«, für »Tystnaden« und »Skammen« gilt das ebenso. Am besten gefiel mir »Musik i mörker«, den ich allerdings nie gesehen habe. Oft war der deutsche Titel auch mühelos zu erraten, bei »Jungfrukällan« etwa oder »Trollflöjten«. Ein Titel jedoch ist mir erst seit wenigen Wochen bekannt: »Sänt händer inte här«, den Bergman 1950 drehte und der in Deutschland später als »Menschenjagd« herauskam. Er ist seit Jahrzehnten nirgendwo zu sehen, denn sein Regisseur hätte ihn am liebsten aus seiner Filmographie verstoßen.
Ich wurde vor einem Monat auf ihn aufmerksam, als er im MoMA lief und meine Neugier durch Kritiken in der New York Times und dem New Yorker geweckt wurde. Ich hatte nicht damit gerechnet, ihn bald (oder überhaupt je) zu Gesicht zu bekommen, aber gestern Abend zeigte ihn das Arsenal, in einer Veranstaltung der Deutschen Kinemathek. Jan Holmberg von der Bergman Foundation, die »Menschenjagd« im letzten Jahr restauriert hat, warnte in seiner Einführung nachdrücklich davor, Künstlern zu trauen, die sich von ihren eigenen Werken distanzieren. Er zeigte auf, wie ambivalent, ja widersprüchlich Bergmans Haltung zu ihm tatsächlich war. 1973 zeigte er ihn in einer Reihe seiner neun schlechtesten Filme, zu der er ein kleines Pamphlet veröffentlichte, in dem er schreibt: »Der Nachteil beim Filmemachen ist, dass sie überleben.« Als Holmberg den verleugneten Film einige Jahre vor Bergmans Tod im Schwedischen Filminstitut vorführen wollte, ließ dieser die Gelegenheit verstreichen, die Vorstellung zu verhindern und rief statt dessen erst einen Tag nach ihr an, um sich zu beschweren. Die befürchtete Schimpftirade hatte es zwar in sich, dauerte aber nur kurz.
Nils Warnecke von der Kinemathek lag nicht falsch, als er »Menschenjagd« in seiner Anmoderation den »mit Sicherheit ungewöhnlichsten Film, den Bergman gemacht hat« nannte. (Ich bleibe beim deutschen Titel, denn mein Schwedisch ist seit damals nicht besser geworden.) Man könnte ihn fast für einen waschechten Thriller aus Hollywood halten; sein Star Signe Hasso hatte dort eine kurze Karriere und die Schwarzweißfotografie von Gunnar Fischer zeigt, wie genau er den Film Noir studiert hat. Der atmosphärische Schattenwurf von Stabjalousien macht sich nicht nur in Los Angeles gut, sondern auch im Mittsommer Stockholms. Hassos schmalem, scharf gezeichnetem Antlitz schmeichelt dies modellierende Licht sehr. Sie spielt eine Wissenschaftlerin, die vor der sowjetischen Besatzung eines fiktiven baltischen Staates nach Schweden geflohen ist. Von ihrem Mann hat sie sich entfremdet; nicht nur, weil er sich als Agent der Besatzungsmacht verdungen hat. Eine Serie von vermeintlichen Selbstmorden unter den Flüchtlingen bringt die schwedische Polizei auf den Plan, die sich aber tunlichst heraushält. Nur ein Inspektor ermittelt beharrlich weiter, der überdies eine Liaison mit Hasso hatte.
Die Handlung ist ziemlich verwickelt und Bergman entlockt ihr zunächst einige schöne Suspense-Momente. Aber seine Inszenierung ist auf reizvolle Weise zerstreut. Die Szenerie Stockholms regt seine visuelle Phantasie mehr an als die Gereimtheiten der Kalter-Krieg-Propaganda. Der szenische Hintergrund ist sehr lebhaft, zumal in einem Theater, dessen Kulissen abgebaut werden: ein Trubel, der es den feindlichen Agenten erlaubt, einen Bewusstlosen unentdeckt fortzuschaffen. Ein Treffen der baltischen Widerstandskämpfer findet hinter der Leinwand eines Kinos statt, auf der ein Trickfilm mit Donald Duck läuft. Die Tonspur ist kunstvoll drapiert, oft läuten Kirchenglocken im Hintergrund und dient laute Musik gelegentlich zur Camouflage von Folterungen. Als das Telefon nur Sekunden nach einem Mordversuch schrillt, ahnt man, dass Herbert Grevenius' Drehbuch einer munter schuldbewussten Traumlogik gehorcht.
Bergman hat einen kompetenten Thriller gedreht, aber immer im Zwiespalt, ob ihm das überhaupt liegt. Wie zwei Jahre zuvor in »Hafenstadt«, einem schönen Spätläufer des Poetischen Realismus, lässt sich das Klima existenziellen Geworfenseins aus seinen späteren Filmen in Rohform erahnen. In der Interviewsammlung »Bergman über Bergman« beschreibt er, wie sehr er darunter litt, dass er das echte Leiden der baltischen Flüchtlinge in seinem Film trivialisierte. Ich vermute, »Menschenjagd« ist auch der erste Film, in dem er die Scham darüber verarbeitet, lange ein glühender Anhänger Hitlers gewesen zu sein.
Aus dieser inneren Spannung löst er sich, in dem er die Spionageintrige zusehends gegen den Strich bürstet. In seiner zweiten Hälfte wird »Menschenjagd« unheimlich lustig. Er steckt voller haarsträubender Zufälle und Missgeschicke. Die Verfolgungsjagd, in die ein betrunkener Passant verstrickt wird, kam mir beinahe wie ein Probelauf für das Nachspiel des Maskenballs in Blake Edwards' »Der rosarote Panther« vor. Und die Szene, in der Ehemann und Inspektor sich ganz unbeeindruckt zeigen vom gezückten Revolver (er wechselt mehrmals den Besitzer) des jeweils anderen, besitzt den erhabenen Unernst einer Konversationskomödie. Ein paar Jahre später, bei »Lektion in Liebe« und »Das Lächeln einer Sommernacht«, sollte sich Bergman ja tatsächlich als begnadeter Komödienregisseur entpuppen.
Niemand im gestrigen Publikum musste befürchten, nun ein verkanntes Meisterwerk zu entdecken. Aber »Menschenjagd« ist mehr als eine turbulente Suchbewegung seines Regisseurs. Man muss Bergman nicht mit anderen Augen sehen, darf sich aber über eine ungekannte Facette freuen. Hoffentlich bleibt die Veranstaltung nicht das Once-in-a-cinphile's-lifetime-Ereignis, das Jan Holmberg in seiner Einführung in Aussicht stellte. Wenn sich das Schwedische Filminstitut schon die Mühe gemacht hat, Bergmans verfemtes Werk zu restaurieren, wird es wohl auch an seiner Sichtbarkeit interessiert sein. Und in der Tat, in drei Tagen (5. Oktober) läuft er in der kleinen Bergman-Reihe des Münchner Filmmuseum. Once in a lifetime? Twice in a week!
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