Wie spricht man ein Semikolon?
Eigentlich finde ich es immer ein schlechtes Zeichen, wenn in einer Ausstellung viele Filmplakate zu sehen sind. Sie scheinen mir keine interessanten, geschweige denn originellen Exponate. Oft empfinde ich sie als denkfaul platzierten Blickfang, als eher dekoratives denn aufschlussreiches Element. Das ist, wenn man es recht betrachtet, natürlich ziemlicher Unfug.
Vor dem digitalen Zeitalter stellten sie oft die erste Begegnung zwischen Kinogänger und Film her. Natürlich sollen sie zum Besuch animieren. Dafür brauchen sie eine Strahlkraft, die möglichst weltweit Wirkung erzielt. Sie sind eine Visitenkarte des Films. Deshalb will ihre Gestaltung wohl überlegt sein. Die Attraktionen des Films müssen versammelt sein. Zunächst geschah dies möglichst umfassend, bis Designer wie Saul Bass die Erzählkraft der Reduktion entdeckten und nach augenfälligen, vieldeutigen und auch provozierenden Emblemen suchten. Im künstlerisch gelungensten Fall geht die Funktion des Plakats über das Werben hinaus: Es offenbart das Wesen des Films.
In einer kleinen Ausstellung in der »Galerie des donateurs«, der Galerie der Spender in der Cinémathèque francaise entdeckte ich unlängst, wie sehr das japanische Kino dieses Ausdrucksmittel kultivierte. Sie trat das Erbe der Plakatkunst vor allem des 19. Jahrhunderts an. Häufig sind sie Collagen verschiedener Bilder wie beispielsweise das Plakat zu »Die Mahlzeit« von Mikio Naruse, auf dem die drei Hauptdarsteller zu sehen sind – Setsuko Hara sogar zweimal, lächelnd im Profil sowie anmutig im Kimono stolzierend. Die Personen wirken heiterer, als es ihnen die Handlung eigentlich gestattet. Dennoch verrät die Collage den Film nicht, sondern annonciert auch Nachdenklichkeit. Spätere Trickfilmplakate halten an dem Charakter der Zusammenschau unterschiedlicher Stimmungen fest. Das Plakat zu Masahiro Shinodas Variantion über die Legende vom Doppelselbstmord von Amijima hingegen ist dem freizügigen graphischen Stil der Shunga verpflichtet, erinnert aber zugleich auch an erotische Darstellungen im Jugendstil. Das Plakat zum pornographischen Märchen »Belladonna of Sadness« von Eiichi Yamamoto (das im Sommer letzten Jahres als Reprise bei uns herauskam) schließlich deliriert im psychedelischen Stil der frühen 70er.
Die Ausstellung »L'ecran japonais – 60 ans de decouvertes« lohnt den Besuch, läuft aber leider nur noch bis zum 25. Juni. Zu den Spendern gehören Olivier Pére, nun Chef der Filmabteilung bei arte, der Regisseur Pascal-Alex Vincent und andere Liebhaber des japanischen Kinos. Vor allem kann die Schau mit eigenen Beständen des Hauses prunken. Da gibt es Graphit-Zeichnungen von Akira Kurosawa zu den »Sieben Samurai« zu sehen sowie einen prächtigen Kimono aus dessen »Kagemusha«. Das Kino Kenji Mizuguchis ist mit Kostüm- und Szenenentwürfen vertreten und auch der Totenmaske des Regisseurs. Ein Foto zeigt Gérard Philipe, einen großer Sammler, zusammen mit seiner Kollegin Hideko Takamine. Auf einem Monitor lässt sich verfolgen, worauf es beim Untertiteln von japanischen Filmen ankommt. Die Pariser Kinemathek streicht nicht zuletzt ihre eigene Rolle hervor als Vermittlerin dieser Kinematographie in Europa und der westlichen Welt. Ein Dankesbrief Kurosawas an Henri Langlois ist ausgestellt, ebenso ein Schreiben, in dem Kon Ichikawa seine Solidarität mit dem Cinémathèque-Gründer erklärt, als dieser 1968 von Kulturminister Malraux entlassen wurde.
Die im Untertitel genannten 60 Jahre der Entdeckungen reichen in die 1950er Jahre zurück, als das japanische Kino erstmals größere Aufmerksamkeit im Westen auf sich zog: namentlich dank der Festivalerfolge von »Rashomon« und »Das Höllentor« von Teinosuke Kinugasa, der mit über einer Million Zuschauern allein in Frankreich zum ersten westlichen Kassenerfolg wurde. Ganz unsichtbar war diese Kinematographie in der ersten Hälfte des Jahrhunderts zwar nicht gewesen: Ich las vor einigen Jahren, dass frühe Filme Naruses bereits in den 30ern in New York liefen. Aber die Begegnung war in den 50ern ein nicht mehr nur punktuelles, sondern ausgreifendes Phänomen. Das geschah gerade noch rechtzeitig, denn dies war auch ein goldenes Zeitalter der großen Studios wie Toho, Daiei oder Shochiku, die ein paar Jahre später durchs Fernsehen in eine tiefe Krise gestürzt wurden.
Faszinierende Einblicke in diese Epoche eröffnet ein Radioessay von Lukas Foerster, an den ich mich beim Besuch der Ausstellung erinnerte. Er ist Teil einer kleinen Reihe, die sich »Japan-Projektionen« nennt. Ich war durch den »Perlentaucher« auf ihn gestoßen (manchmal hat es sogar Vorteile, dass dieses Portal vorzugsweise auf Veröffentlichungen seiner eigenen Autoren hinweist), er dürfte in der Mediathek des Deutschlandfunks noch eine Weile zu hören sein und kann auf dessen Seite auch nachgelesen werden. Schon formal ist er interessant: Im Gegensatz zu meinen Erfahrungen bei Radiofeatures, wo die Redakteure auf ständige Abwechslung drängen, vertraut er ganz auf das gesprochene Wort. Er macht kaum Konzessionen an das Medium, es gibt nur selten akustische Akzente, die Zäsuren markieren. Er ist wirklich als Essay verfasst, dessen Syntax und komplexe Argumentation es den Sprechern nicht eben leicht macht. Glücklich ein Sender, der auf so aufmerksame Hörer zählen kann!
Foerster skizziert die japanische Filmgeschichte, stellt vor allem aber die westliche Rezeptionsgeschichte dar, die von Neugierde und Missverständnissen geprägt ist. Besonders aufschlussreich finde ich den Zeithintergrund, den Foerster entrollt: den »demokratischen Idealismus«, die in der Nachkriegszeit sich artikulierende Hoffnung auf eine politische und kulturelle Weltgemeinschaft. Er beklagt die Sichtverengung auf wenige Meisterwerke und ihre Regisseure. Die »Breite und nicht einmal den Durchschnitt« der japanischen Filmproduktion sieht er im Westen nicht wahrgenommen. Die »Godzilla«-Filme bleibt da die Ausnahme. Foerster hat den Eindruck, der Westen würde das »Falsche« feiern. Er plädiert für einen Wechsel der Blickrichtung.
Aber selbst an der Spitze der Hierarchie findet eine Verengung statt: Kurosawa und Yasujiro Ozu waren immer sehr präsent, Mizoguchi schon weniger. Und die Vorstellung, dass Naruse vielleicht der interessanteste unter den großen Meistern sein könnte, ist zumal in Deutschland noch immer schwer zu vermitteln. Später ließ man dann allenfalls Nagisa Oshima noch gelten; Shohei Imamura und andere führen weiterhin ein Nischendasein in der cinéphilen Wahrnehmung. Seither hat sich einiges getan. Das Forum der Berlinale lenkte in den letzten Jahrzehnten immer wieder das Augenmerk auf kleine und große Meister wie Hiroshi Shimizu, Minoru Shibuya oder Yuzo Kawashima, aber auch auf das Genrekino. Es kommen immer neue Spuren hinzu, die Gegenstand lohnender, schwieriger Durchsetzungskämpfe sind. Mithin kann die japanische Filmgeschichte als eine unerschöpfliche Schatzkammer erscheinen, obwohl ihre Überlieferungssituation katastrophal ist: Ganze vier Prozent der japanischen Stummfilmproduktion sind noch erhalten. Das Filmerbe ist einzigartigen Verheerungen zum Opfer gefallen: dem großen Erdbeben von 1923, den alliierten Bombardements der Großstädte, nach dem Weltkriegs der Siegerjustiz der Besatzungsmacht, die unzählige Filmkopien konfiszierte und zerstörte; vor allem aber der Gleichgültigkeit der Industrie. Schwer vorstellbar, dass ein Land, das so viel Wert legt auf das Andenken der Vergangenheit, derart fahrlässig umgehen konnte mit der eigenen Filmgeschichte.
Seit Längerem gibt es namhafte Festivals des japanischen Kinos, die »Nippon Connection« in Frankfurt und das Japan-Filmfest in Hamburg. Sie unterstreichen einerseits die Bedeutung dieses Filmlandes. Zugleich drückt sich in ihnen aber auch eine Skepsis aus: Ein Großteil der aktuellen Produktion hätte sonst keine Sichtbarkeit in Deutschland. Ich hebe auch deshalb so stark auf die Rezeption Japans ab, weil sie historisch auch als Wegbereiter für andere asiatische Kinematographien fungierte, deren Entdeckung indes mit beträchtlicher Verzögerung stattfand.
Im Augenblick gibt es im deutschsprachigen Raum eine ganze Reihe von Möglichkeiten, Lücken zu schließen. Das Berliner Arsenal stellt ab heute den verwehten Regisseur Sadao Yamanaka, der in den 30ern 26 Filme drehte, von dem aber bislang allenfalls der großartige »Humanity and paper balloons« Kennern etwas sagte. Das umtriebige Japanische Kulturinstitut in Köln spielt eine Retrospektive der »Nippon Connection« mit romantischen Softcore-Pornos aus dem Hause Nikkatsu nach. Von diesen so genannten pink-eiga kamen Ende der 80er einige wieder in deutsche Kinos; der Text, den Karsten Wittte damals dazu schrieb, ist bestimmt noch lesenswert. Im Österreichischen Filmmuseum schließlich läuft eine Reihe von Produktionen der Shochiku aus dem Wendejahr 1960, als auch in Japan eine Neue Welle ausbrach. Lukas Foerster hat sie zusammen mit Hannes Brühwiler im Rahmen ihres »Kino-Atlas« kuratiert. Die Nahaufnahme dieses Jahresrings ist nicht auch jenseits von Oshimas heftigen Jugendkriminalitätsdramen reich an Entdeckungen. Verblüfft hat mich vor allem die Wiederbegegnung mit den ersten Regiearbeiten von Kiju Yoshida, deren rissige, musikalische Montage (der Auftritt einer Nachtclubsängerin ist wie ein eleganter Vorläufer von Videoclips inszeniert) und Tondramaturgie (man meint ständig, im Hintergrund den Herzschlag der Großstadt zu hören) mich in den Bann zogen. Von einigen der anderen hier vertretenen Regisseure habe ich zuvor nie etwas gehört. Die Filmreihe spiegelt ein Klima des Aufbegehrens gegen eine korrupte, lethargische Gesellschaft wider. Ästhetisch und ideologisch will sich die neue Generation von den vorangegangenen radikal absetzen. Was damals eine große Abrechnung, ein Verdrängungsprozess war, hebt die Rückschau heute auf: Es ist eine Spur, die hoffentlich zu weiteren führt.
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