Urbaner Wohlklang
Die Filmgeschichte ist nicht unbedingt arm an Szenen, die in Innen- oder Hinterhöfen spielen. Im Kino der Weimarer Republik sind sie ein häufiger Schauplatz, ebenso im Neorealismus und der italienischen Komödie, die an ihn anschloss. Aber gemessen an Reiz und Potenzial dieses Lebensraums sind es doch erstaunlich wenige. Als Ort nachbarschaftlicher Begegnung besitzt er im Treppenhaus allerdings einen starken Konkurrenten.
Die filmische Inbesitznahme des Hofs hat viele Facetten. In Fritz Langs »M« folgt der Blick aus dem Fenster elterlicher Sorge, in Nicholas Rays »In a lonely place« (Ein einsamer Ort) entsteht zwischen Humphrey Bogart und Gloria Grahame eine bange, für ihn vielleicht heilsame Nähe. Die chinesische Variante des Hutongs ist in Zhang Yimous »Rote Laterne« eine Sphäre des Verborgenen. In Cédric Klapischs hübschem Paris-Film »,,,und jeder sucht sein Kätzchen« ist der Hof fast noch ein Hort kleinstädtischen Zusammenhalts. In »Nur für Personal« entdeckt Fabrice Lucchini ungeahnte Freiheiten, als er in den Dienstboten-Trakt zieht (da erinnere ich aber eher Treppenszenen). In »Clockers« (nach Richard Price' Roman) sind die Höfe der Sozialsiedlungen Brutstätten urbaner Kriminalität. Roman Polanskis »Der Mieter« wiederum misst eine beklemmende Klaustrophobie aus.
Francois Truffaut unterschied die Weltsicht seiner Idole Jean Renoir und Alfred Hitchcock anhand der Art, wie sie in »Das Verbrechen des Monsieur Lange« und »Das Fenster zum Hof« diesen Schauplatz inszenieren. Bei beiden fungiert er als Welttheater. Renoir betrachtet ihn als offenen Raum der Begegnung und Spontaneität, Hitchcocks Film hingegen offenbart ein pessimistisches Menschenbild. Bei ihm entsteht keine nachbarschaftliche Vertrautheit, sondern herrschen Argwohn, Verzweiflung und Mordlust. Überdies gilt »Das Fenster zum Hof« als Schlüsselfilm über den Voyeurismus.
Ich bin überzeugt, dass mein eigenes Großstadterleben entscheidend davon bestimmt wird, nicht im Vorderhaus zu wohnen und von dort das Treiben auf der Straße beobachten zu können. Mein Blick fällt auf die Wohnungen gegenüber und in den Hofgarten, der angeblich akribisch die Anlage rekonstruiert, die bereits beim Erstbezug des Hauses um die vorletzte Jahrhundertwende existierte. Allein räumlich entsteht dadurch schon ein Gefühl von Gemeinschaft. Hierhin gehöre ich.
Von Berufs wegen gerät ein Filmkritiker notorisch unter Verdacht, Voyeur zu sein. Daran trägt Hitchcock große Schuld. Ich ziehe mich immer gern aus der Affäre, indem ich den Begriff des »regardeur« ins Spiel bringe, den Patrice Leconte für die Titelfigur seines »Die Verlobung des M. Hire« reklamierte. Betrachter klingt gleich viel unverfänglicher. Ohnehin steht ein etwaiger Voyeurismus diesmal gar nicht zur Debatte, denn in der folgenden Geschichte geht es um eine akustische Neugierde.
Die Geräuschkulisse Berlins ist in unserem Innenhof präsent, aber ein wenig gedämpft. Sie wird übertönt durch eine hausgemachte: die lebhaften Auseinandersetzungen des schwerhörigen, russischen Rentnerpaares; den dumpfen Partylärm, der verdrießlich oft aus einer Wohnung kommt, von der wir vermuten, dass sie illegal als Ferienapartment genutzt wird; von den Instandhaltungsarbeiten, die seit anderthalb Jahren kein Ende nehmen wollen, will ich gar nicht erst anfangen. Ruhig ist es manchmal auch.
Seit ein paar Jahren bin ich glücklicher Ohrenzeuge zweier Musikerkarrieren, die sich in unserem Haus zutragen. Den hellen Mezzosopran der Opernsängerin aus dem Gartenhaus vernehme ich leider nur selten; ihre Wohnung geht nach hinten hinaus. Das Klavierspiel, dass aus dem dritten Stock im Seitenflügel gegenüber kommt, höre ich dafür umso besser. Es begleitet mich durch die Jahreszeiten. Im vorletzten Sommer lernte ich unter Umständen seinen Urheber kennen, die sich ein gutgelaunter Drehbuchautor hätte ausdenken können. Ich suchte nach einem Geburtstagsgeschenk für meinen Vater, der auf der Rückreise von der Ostsee Zwischenstation machen wollte. Ein Abend im Konzerthaus am Gendarmenmarkt schien die richtige Wahl zu sein: Es wurde ein amerikanisches Programm gegeben, mit Stücken von Bernstein, Gershwin und Weill.
Unterdessen lauschte ich tagtäglich Passagen aus der »Rhapsody in Blue«, die von gegenüber kamen. Eines Nachmittags bemerkte eine Besucherin, die von Musik weit mehr versteht als ich, wie virtuos sie gespielt wurden. (»Schwierige Stelle, hat er sehr gut hinbekommen.«) Langsam dämmerte mir, dass in unserem Hof womöglich für besagtes Konzert geübt wurde. Ich eilte zur Haustür hinunter, in der Hoffnung, auf dem Klingelbrett den Namen des Virtuosen zu finden. Tatsächlich: Ein Name stimmte mit dem des Dirigenten und Solisten überein, der den Konzertabend bestreiten sollte: Lahav Shani. Unsere Internetrecherche brachte rasch heraus, was für einen illustren Nachbarn ich da hatte. Er ist blutjung, studiert noch an der Musikschule »Hanns Eisler«, hat aber schon einen wichtigen Dirigenten-Wettbewerb gewonnen und ist weltweit gefragt. Gerade war er im Hollywood Bowl in Los Angeles aufgetreten. Meine Besucherin entzückte nicht nur sein Talent, sondern auch sein blendendes Aussehen.
Es dauerte ein paar Tage, bis ich den Mut aufbrachte, ihn aufzusuchen. Zunächst befürchtete er wohl, ich wolle mich über die Musik beschweren. Da konnte ich ihn beruhigen: Vielmehr sei er ein prächtiges Geschenk. Er bat mich hinein (nun konnte ich auch das famose Klavier aus der Nähe betrachten) und lud uns ein, ihn nach dem Konzert in der Garderobe zu besuchen. Lahav stammt aus Israel und erzählte, Zubin Mehta (oder war es Daniel Barenboim?) habe ihm geraten, entweder nach Berlin oder nach Wien zu gehen. Er schien mir ein Wunder an Konzentration und Gelassenheit zu sein. Nein, den Baulärm würde er ignorieren. Und Lampenfieber kenne er nicht – sofern er gut vorbereitet sei. Wenige Stunden vor dem Konzert traf ich ihn noch mit einer Besucherin aus London. Etwas später hörte ich noch einmal üben und fragte mich, wie schafft er es in der kurzen Zeit, sich noch zu rasieren, umzuziehen und zu sammeln vor seinem Auftritt?
Das Konzert war ein rauschhaftes Erlebnis. Das Publikum war hingerissen. Ich hatte das Gefühl, er habe einen Pakt mit ihm geschlossen, zu dem wir verspätet zugelassen wurde. Dabei war er mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester zuvor noch nie aufgetreten. Seine Spielfreude und sein Temperament waren einnehmend. Begeistert stimmten wir in den tosenden Applaus ein. In der Garderobe wurden wir freudig begrüßt: »Sie sind also die Nachbarn, von denen Lahav erzählt!« Wir lernten seinen Agenten kennen (»Als Nächstes planen wir ein Klavierkonzert von Prokofjew.«) und Lahavs reizende Freundin Miri Saadon, die Klarinette spielt und nun an der Barenboim-Said-Akademie studiert. Wir waren uns einig, dass eine solche Begegnung nur in Berlin stattfinden könne. Wo sonst gibt es so kommunikative Hinterhöfe? Die Hochstimmung, der Nachhall des Kunstgenusses, wurde nur sacht getrübt, als mein Vater sich nach den Bundesligaergebnissen erkundigte.
Seither haben Lahav und ich uns leider viel zu selten gesehen; zumal wir die Vorliebe für gute Zigarren und Michel Legrand teilen (er war erschüttert, als er erfuhr, wie schlecht besucht sein Konzert in Berlin war, über das ich im Eintrag »Die Kunst des Entgegenkommens« am 4. November 2015 schrieb). Er ist viel unterwegs. Im nächsten Jahr wird er die Position des Chefdirigenten beim Sinfonieorchester in Rotterdam übernehmen. Er befindet sich in einer spannenden Lebensphase, einer faszinierenden Gleichzeitigkeit, noch Schüler und schon Meister zu sein. Seine Lehrjahre gehen bereits mit Ruhm einher; Stolz und Erwartung müssen sich vermischen.
Seit einigen Wochen höre ich ihn wieder eifrig üben. Der Klang seines Klaviers drang gestern Abend gar durch die winterlich verschlossenen Fenster. Lahav bereitet sich auf das nächste Konzert mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester vor. Zwei meiner Lieblingskomponisten stehen auf dem Programm: Er wird das 2. Konzert von Schostakowitsch spielen, Strawinskys »Feuervogel« dirigieren sowie den »Zauberlehrling« von Paul Dukas, den Sie natürlich aus Disneys »Fantasia« kennen. Das Konzert findet am 22. Januar in der Philharmonie statt. Vielleicht gibt es noch Karten – wenn nicht, wird am darauffolgenden Dienstag eine Aufzeichnung auf Deutschlandradio Kultur gesendet. Ich bereite mich an meinem Fenster zum Hof derweil darauf vor, wieder hingerissen zu werden.
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