Jugendschutz als Zahlenspiel
Auf Anhieb käme man nicht auf die Idee, dass es sich hier um den selben Film handelt. Denn wie kann es sein, dass die Selbstkontrolle der Filmwirtschaft ihn in einem Land für Zuschauer ab sechs Jahren freigibt, in einem anderen aber erst ab 17 Jahren?
Die Verwirrung fängt mit dem Titel an: Lange Zeit konnten sich die Produzenten nicht entscheiden, ob der Film nun »About Ray« oder »3 Generations« heißen soll. In Argentinien, Brasilien und Chile kam er in der ersten Variante heraus, in Finland, Italien, Spanien und anderen Territorien in der zweiten. Für beide Titel spricht einiges, was Sie gewiss bestätigen werden, wenn Sie »Alle Farben des Lebens« (unter diesem Titel kam er im vergangenen Dezember bei uns heraus) gesehen haben. Tatsächlich geht es in Gaby Dellas Film wesentlich um den Teenager Ray (Elle Fanning), der sich einer Geschlechtsumwandlung unterziehen will. Eine ebenso starkes erzählerisches Gewicht liegt auf dem Zusammenleben von Frauen aus drei Generationen unter einem Dach.
Was den Titel angeht, herrscht in den USA mittlerweile Klarheit: Dort hat sich die Weinstein Company für die zweite Variante entschieden. Aber um die Frage, welche Altersgruppen er erreichen darf, ist ein heftiger Streit entfacht, wie ich am Wochenende dem »Hollywood Reporter« entnahm. Die »Motion Picture Association of America«, die Interessenvertretung der Filmbranche (bzw. der sechs größten Studios) hat ihm das Rating »R« verpasst, die zweitschärfste Altersbeschränkung. Wenn der Film Anfang Mai startet, darf er von Jugendlichen unter 17 Jahren nur in Begleitung ihrer Eltern oder anderer Erwachsener geschaut werden. Als Begründung nennt die MPAA die freizügige Sprache sowie Darstellung von Sexualität. An Letzteres kann ich mich nicht erinnern; aber Beides würde der Lebenswirklichkeit des Teenagerpublikums entsprechen, dem der Film nicht ohne elterliche Anleitung zugemutet werden kann.
Die FSK entschied sich für die Altersbeschränkung ab sechs Jahren. (Wie dies in den anderen Territorien gehalten wurde, brachte eine ausführliche Internetrecherche vorerst nicht heraus; allerdings war zu erfahren, dass er im vermeintlich katholischen Italien den bisher größten Publikumszuspruch erzielte.) Beide Entscheidungen finde ich problematisch. Die FSK ist einerseits notorisch unflexibel, wenn es darum geht, einmal getroffene, strenge Entscheidung zu revidieren – vielleicht haben Sie in der letzten Woche gelesen, dass Sam Raimis »Tanz der Teufel« erst nach fast vier Jahrzehnten vom Index verschwunden ist. Zugleich verfährt sie erstaunlich liberal, was die Altersbeschränkung ab sechs Jahren angeht. Streitfälle waren in der Vergangenheit beispielsweise »Keinohrhasen« oder Isao Takahatas Animationsfilm »Die letzten Glühwürmchen«, der verstörend anschaulich den Überlebenskampf japanischer Kinder am Ende des Zweiten Weltkriegs schildert. Die an und für sich sympathische Prämisse der FSK-Entscheidungen scheint zu sein, Filme über Kinder und Jugendliche eben genau diesen Altersgruppen zuzuführen. Nun hege ich allerdings große Zweifel, ob es wünschenswert ist, Kinogänger unter 12 Jahren mit den in »Alle Farben des Lebens« verhandelten Konflikte zu konfrontieren. Ich frage mich, ob sie ihnen bereits verständlich sind und ob sie sich überhaupt schon dafür interessieren. Da könnte ich mich irren. Immerhin zeigt der Film einfühlsam, wie diese Konflikte allmählich im Zusammenhalt einer Mehr-Generationen-Patchwork-Familie gelöst werden können.
»Alle Farben des Lebens« handelt im Kern vom Wandel gesellschaftlicher Vorstellungen und Werte; der deutsche Verleihtitel ist gewissermaßen ein Plädoyer für Toleranz und Diversität. Die momentane Entscheidung der MPAA trägt dem keinerlei Rechnung. Ich habe den Verdacht, diese altväterliche Haltung entzündet sich weniger an einer mutmaßlichen Obszönität der Dialoge, sondern an dem Klima der Offenheit, das im Film herrscht. Die traditionellen Familienverhältnisse haben sich längst aufgelöst. Das ist ein Befund, der konservativen Sittenwächtern nicht behagt. Die Weinstein Company drängt auf das Freigabe-Visum »PG-13«, was erst einmal vernünftiger erscheint. Die Freigabe ab 13 ist mit einer dringenden Warnung verbunden und fordert eine elterliche Anleitung. Ein entscheidendes, vielleicht gar wirkmächtiges Kontrollinstrument gäbe die MPAA damit also nicht aus der Hand. Aber ist eine solche Bevormundung heute wirklich noch zeitgemäß? Wer schützt Filme vor den Jugendschützern?
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