Allerweltsfreund auf Zeit
Die Zeit stellt uns Fallen. Manchmal verstreicht sie langsam, und doch verpassen wir den richtigen Moment. Manche Leute halten zu lang an ihrem Posten fest. Hingegen erreicht mancher Brief auch nach sieben Monaten noch seinen Adressaten. Dieser Blog allerdings kommt mindestens eine Woche zu spät.
Tatsächlich ging er mir schon vor zwei Wochen durch den Kopf. Sieben Tage später wollte ich ihn endlich in Angriff nehmen. Da war es fast schon zu spät. Und es wollte mir partout nicht gelingen, mehr als Bruchstücke kamen dabei nicht heraus. Ich hatte aber nur einen Gegenstand und kein wirkliches Thema. Kein Wunder, dass ich seit ein paar Tagen Carole Kings "It's too late" nicht mehr aus dem Kopf bekomme, seit ich es in »Das Leuchten der Erinnerung« hörte, wo es ein wenig voreilig wirkt, denn Helen Mirren und Donald Sutherland bleibt noch etwas Zeit. Aber mein schreibhemmendes Unbehagen schien King zu verstehen: "There's something wrong here, there can be no denying". Inzwischen hat sich vieles erledigt. Als Beitrag zur Debatte, die momentan in deutschen Filmkreisen, vom Ausland nicht völlig unbemerkt, geführt wird, fällt dieses Stück in die Kategorie der Spätzünder.
Also alles wieder auf Anfang. Ihnen schwant natürlich, worum es geht: um die Zukunft der Berlinale. Vor ein, zwei Wochen ging es auch noch um die Zukunft ihres jetzigen Leiters. Die Verlängerung seines Vertrages über das Jahr 2019 hinaus stand als Drohung im Raum, eventuell auch die Erfindung eines neuen Postens für ihn, vielleicht als Präsident. Seine Arbeitgeberin Monika Grütters schien zugleich an ihrer Vorstellung festhalten zu wollen, die Nachfolge sollte eine deutsche Frau antreten. Da waren zwei Namen aus der Filmförderung im Gespräch, auch dies eine schlimme Drohung, die womöglich belegt, dass Filmpolitik für die Staatsministerin weniger nach künstlerischen als bürokratischen Erwägungen funktioniert. Aber auch da herrscht erst einmal Entwarnung. Die Diskussion, die am letzten Montag in Berlin über die Zukunft der Filmfestivals stattfand (der Plural geriet bestimmt schnell in Vergessenheit und der Hauptakteur war abwesend – sollte Dieter Kosslick wirklich so geschickt sein wie Henri Langlois, der sich 1968 strategisch zurückzog und die Anderen für ihn kämpfen ließ?), lässt auf ministerielle Einsicht schließen. Frau Grütters scheint der Forderung von bislang über 80 deutschen Filmemachern folgen zu wollen, eine Findungskommission zu etablieren - freilich nicht so weltläufig und filmkundig wie erhofft -, die ergebnisoffen suchen soll. Geeignete Kandidaten sind momentan rar gesät. Der vielfach erklärte Wunsch, es solle ein international vernetzter, authentisch filmbegeisterter Kurator sein, wird schwer zu erfüllen sein. Die Berliner leisten, wie Frau Grütters weiß, gern lebhaften Widerstand gegen Heilsbringer aus dem Ausland, wie der Ärger über einschlägige Neubesetzungen an der Volksbühne, dffb und dem Humboldt-Forum demonstrieren. Im "Freitag" hat Matthias Dell wenige Tage vor Veröffentlichung des Briefes der Filmemacher zwei österreichische Namen ins Spiel gebracht, Christine Dollhofer und Alexander Horwath. Hervorragende Ideen, obwohl ich fürchte, dass die Berlinale so viel Cinéphilie nicht verkraften wird.
Mittlerweile haben sich einige Unterzeichner des Briefes von ihm vage distanziert, er sei von der Presse missbraucht worden für eine typische deutsche Kopf-Ab-Kampagne gegen Kosslick. Ich hätte gedacht, begabte Erzähler wie Andreas Dresen und Dominik Graf müssten von Berufs wegen etwas mehr von Subtexten verstehen. Nun ist der Schwarze Peter also bei uns gelandet, den Journalisten. Ohnehin kursieren Verschwörungstheorien, die Filmkritik sei der heimliche Einflüsterer des Protests der Filmemacher gewesen. Wir stören die Eintracht - und Kosslick bekommt auch noch Rückendeckung von seinen Angreifern? Höchste Zeit, die Beißhemmung zu lösen, schließlich haben wir ihn noch zwei Jahre am Hals.
Zugegeben, die Politik ist gut mit ihm gefahren. Er war, trotz clownesker Ausfälle, berechenbar. Anfangs erschien er gar wie eine Erholung nach seinem Vorgänger, dem begnadeten Choleriker Moritz de Hadeln. Mit ihm hielt die Folklore Einzug in den Festivalbetrieb, er brachte gute Laune mit, stand politisch auf der richtigen Seite, war ein lustvoller Vegetarier etc.etc. Das Wetter war wunderbar während seiner ersten Berlinale. George Clooney kam oft, manchmal gewannen die Richtigen und in jedem Jahr ließen sich neue Zuschauerrekorde vermelden. Dass das Herzstück des Festivals, der Wettbewerb, unter dem Regime dieses Allerweltsfreunds an Profil verlor, schien offenbar wirklich nur uns sauertöpfische Journalisten zu genieren.
Dass er von der Filmförderung kam, merkte man fast nicht. Wie ein Bürokrat wirkte der vergnügte Zampano beileibe nicht. Da waren wir indes einer üblen Täuschung aufgelaufen. Dieser Ursprüngsmythos Kosslick wirkt jedoch fort, wie ein läppischer Artikel im "Tagesspiegel" gerade erst bestätigt, der den „lustig-liebenswerten Mr. Berlinale“ auf den Wochenmarkt begleitet. (Natürlich kauft er nur Produkte, die über jeden Verdacht erhaben sind; sogar sein kleiner Sohn isst Bio-Fassbutter.) Sie merken schon, bei ihm läuft man ständig Gefahr, vom Wesentlichen abzuschweifen. Aber das ist ja auch seine Programmpolitik. Für Einen aus der Förderung ist ein Film vermutlich erst einmal eine ziemlich abstrakte Sache. Der wird auf Themen abgeklopft, auf seine gesellschaftliche Relevanz und seine kommerziellen Möglichkeiten. In die Verlegenheit, sich mit seiner ästhetischen Haltung auseinanderzusetzen, kommt man selten nicht. Diese Filmferne prägt auch die Ägide des Festivalleiters. Ich hoffe inständig, dass seinen Posten ab 2020 jemand bekleidet, der den Filmemachern ein Gegenüber ist, das ihre Arbeiten auch wirklich gesehen hat.
Die andere Facette der filmförderischen Herkunft besteht im Selbstverständnis des Wohltäters. Sie offenbart sich in der ersten Reaktion Kosslicks auf den Brief, die ich im Fernsehen sah, in der unseligen "Kulturzeit" auf 3Sat. Er konnte seine Kränkung kaum verbergen. Die Undankbarkeit der Filmemacher! Über 1300 deutsche Filme habe er auf der Berlinale gezeigt (eine Zahl, die ich persönlich beängstigend finde), drei Goldene Bären hätten sie gewonnen, fast ein Dutzend Silberne Bären und eine ganze Reihe von Alfred-Bauer-Preisen. Damit schmückt er sich, als habe er sie selbst vergeben. Andererseits, wer von uns hätte nicht auch dünnhäutig reagiert auf eine so scharfe Kritik?
Seither hat er sich wiederholt ins rechte Licht gerückt, namentlich in der "Zeit". (Da hätte ich übrigens auch eine Verschwörungstheorie anzubieten: Warum gehen die Blätter der Holtzbrink-Gruppe eigentlich so wohlwollend mit ihm um?) Im Interview mit der Wochenzeitung spottet er insbesondere über die Forderung nach einer Entschlackung des Festivalprogramms. Mit dem steten Hinzuerfinden neuer Reihen und Sektionen hat er gewissermaßen an der eigenen Unentbehrlichkeit gearbeitet: Wer, wenn nicht ich, kann einen solchen Moloch in den Griff bekommen? Er beklagt, dass die Kritiker bislang Vorschläge schuldig geblieben seien, was man abschaffen könnte. In der Tat ist es schwierig den Überblick zu behalten, was in diesem Gemischtwarenladen alles zu haben ist. Aber auf Anhieb fallen mir mindestens zwei Reihen ein, von denen man sich schmerzlos verabschieden kann: das kulinarische Kino und die "Berlinale Specials". Ferner sollte man der Frage nachgehen, ob die „Berlinale Talents“ wirklich eine derart wuchernde Parallelwelt bleiben müssen.
Die Ausrichtung weiterer Sektionen sollte dringend überdacht werden. Die Deutsche Reihe hat sich zum perspektivlosen Ghetto entwickelt, das international kaum wahrgenommen wird. Kosslicks Marginalisierung der Retrospektive – angeblich hat er als erste Maßnahme seiner Amtszeit deren Budget halbiert – hat hier praktisch jegliche Entdeckerfreude gelähmt. Die einzige Retro der letzten Jahre, in der echte historische Forschungsarbeit geleistet wurde, war 2012 "Die rote Traumfabrik". Im nächsten Jahr wird das hinlänglich bekannte Kino der Weimarer Republik gefeiert. Passt gut zur UFA-Ausstellung. Ich hoffe, da wird ein neuer, frischer Blick gewagt. Wie sich das Gegenwartskino schlagen wird, müssen wir sehen. Auf den Eröffnungsfilm darf man sich freuen: Es ist »Isle of Dogs« von Wes Anderson. Der erste Animationsfilm auf diesem Programmplatz, wie die Berlinale stolz verkündet. Warum erst jetzt? Die Pressemeldung kam jedoch zum rechten Zeitpunkt: eine Charmeoffensive, als die Debatte gerade besonders brenzlig wurde.
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