Zeitgemäße Erregungen
Ich will nicht sagen, dass es mich empört. Aber abfinden mag ich mich damit ganz und gar nicht. Die zügellose Verbreitung, die der Begriff »Aufreger« seit einigen Jahren findet, ist mir ein Dorn im Auge. Er darf ungestraft in Buchtiteln auftauchen (»Cineastische Aufreger gestern und heute«, »Die größten Aufreger der Antike«); selbst der Duden erhebt keine Einwände mehr gegen ihn.
Ich verstehe zwar, was mit ihm gemeint ist. Plump genug ist er ja. Seine weitere Karriere werde ich nicht aufhalten können. Aber mit ein wenig Rufschädigung würde ich mich schon zufriedengeben. Korrekt scheint mir seine umgangssprachliche Verwendung jedenfalls nicht zu sein: Müsste das Substantiv nicht eine Person bezeichnen statt eines Kunstwerks, das Anstoß erregt? Kein Zweifel, das altbewährte Synonym »Skandalon« ist ihm jederzeit vorzuziehen. Es klingt zwar nach Feuilletonistendeutsch, kann sich aber einer bemerkenswerten Herkunft rühmen. Im Alten Testament benennt es das Böse, das den Menschen von Gott wegführt. Im Griechischen steht es für den Anstoß, das Ärgernis oder auch den Fallstrick. Seine Wurzeln im Altgriechischen besitzen einen unwiderstehlichen metaphorischen Mehrwert. Vor einiger Zeit stieß ich aug eine alte Notiz, die mich belehrt, dass das Skandalon ursprünglich ein kleines Stellholz in Tierfallen war, bei dessen Berührung diese zuschnappte. Das wirft eine prächtige Frage auf: Wer tappt bei einem Skandal denn nun in die Falle, das anstößige Kunstwerk, seine Angreifer oder das verunsicherte Publikum?
Diese etymologischen Überlegungen stelle ich aus aktuellem Anlass an. Dieser Sommer steht mindestens zweifach im Zeichen des Skandals. Zum einen hat arte die Monate Juli und August zum »Summer of Scandals« erklärt. Da geht es hauptsächlich um die Provokationen durch populäre Musik oder ihre Protagonisten. Aber eine Filmreihe bietet sich zu dem Thema natürlich ebenfalls an. Ihre Zusammenstellung gibt mir Rätsel auf. Ich kann nachvollziehen, dass in diesem Zusammenhang »Das große Fressen«, »Im Reich der Sinne« und »Lolita« gesendet werden. Wie »Eyes Wide Shut« in diesen Kontext passt, ist mir schleierhaft. Was in ihm zu sehen ist, dürfte allenfalls Kubrick selbst schwefelhaft erschienen sein. Das Filmkollektiv Frankfurt schürft da tiefer. Vom 16. Juli an zeigt es eine Auswahl von Filmen, die in ihrer Zeit Anstoß erregten und einen, der es gerade erst vor ein paar Monaten tat. Die Vorführungen sind nach Themen gruppiert: Es gibt Programme zu Sexualität (das Vilgot-Sjöman-Doppel »Ich bin neugierig – Gelb/Blau«), Blasphemie (»Das Liebeskonzil«), Diskriminierung (»Freaks«), Gewalt (»Peeping Tom«), Jugendkultur (»Berlin – Ecke Schönhauser«) und weiteren Themen. Zum Auftakt läuft »Baby Doll« von Elia Kazan, gegen den Francis Kardinal Spellman 1956 eine denkwürdige Brandrede hielt.
Von der Kanzel der St. Patrick's Cathedral fuhr der damalige Erzbischof von New York schwere Geschütze gegen die Tennessee-Williams-Verfilmung auf. Er stellte die Gewissenlosigkeit und Verderbtheit des Films dem patriotischen Pflichtgefühl der in Nord Korea stationierten US-Soldaten gegenüber, die gerade zu Thanksgiving besucht hatte. Spellman war eine einflussreiche Figur der Nachkriegszeit. Er unterstütze den Kommunistenfresser Joseph McCarthy, machte Wahlkampf für Richard Nixon und trat als Fürsprecher des Vietnamkriegs auf. John Waynes »Die grünen Teufel«, den das Filmkollektiv auch zeigt, fand zweifellos seine Zustimmung. Ansonsten war er wohl ein eher strenger, ungnädiger Kinogänger. Er wetterte gegen die Unmoral von Rossellinis »Amore« und diverser Filme Otto Premingers. Das heißt, falls er die empörenden Filme auch wirklich gesehen hat.
Das ist eine interessante, wenngleich nicht überraschende Konstante in der Skandalchronik des Kinos. Die Erregung bricht sich vorzugsweise im Vorfeld Bahn. Sie kommt in der Regel ohne Ansehen der Filme aus. Das Gerücht genügt bereits als Anfangsverdacht, denn der Verworfenheit muss unverzüglich Einhalt geboten werden. Darin zeigt sich ein eminent paternalistischer Zug von Warnung und Zensur. Sie ist eine Bevormundung, der es nicht an Herablassung fehlt: Insgeheim gibt sie sich zu erkennen als Sorge um Zuschauer, die dank ihrer Bildung oder Klassenzugehörigkeit nicht ausreichend gewappnet sind gegen Versuchungen. Übrigens landen ja nicht die Drehbücher in den Giftschränken; Skandalisierung und Zensur basieren auf der Mutmaßung, dass erst ihre Umsetzung in Bilder eine subversive oder verderbliche Kraft entfaltet. Die Empörung mag oft aufrichtig sein. Ihre Wortführer begreifen sich als Treuhänder der sittlichen oder religiösen Empfindlichkeiten, die verletzt wurden. Das Dilemma der Moralwächter, sich der Berührung mit dem Bösen nicht aussetzen, wohl aber ein Urteil darüber fällen zu wollen, scheint mir noch nicht ausreichend erforscht.
Überdies lässt sich ihr Unbehagen ja auch nicht an einzelnen Bildern oder Szenen dingfest machen. Die könnte man notfalls herausschneiden. Die Wachsamkeit von Moralwächtern ist umfassend, Zensoren hingegen sind Buchhalter. Ihrem Blick entzieht sich das Schwebende, Atmosphärische und die subtile Andeutung. Selbst wenn man Bergmans »Das Schweigen« (muss in Frankfurt nicht laufen, ist aber ein erhellendes Beispiel) seiner damals als obszön gegeißelten Sexszenen entkleidet, entschärft das nicht jenes Klima von Gottlosigkeit und Verzweiflung, das 1963 Kirchen- und Staatsvertretern gewiss der größere Dorn im Auge war.
Wer sich mit Tabubrüchen beschäftigt, begibt sich auf eine Zeitreise durch die Kulturgeschichte. Nichts veraltet im Kinogeschäft so rasch wie die Entscheidungen von Zensoren. Es verblüfft zwar nach wie vor, wie explizit Nagisa Oshima Mitte der 70er Genitalien zeigt, aber schockiert es uns noch? Was einst Anstoß erregte, gehört heute meist zur Bilderwelt des Alltags. Das mag erklären, weshalb inkriminierte Filme in der Regel ein regeres Nachleben führen als ihre Ankläger. »Baby Doll« genießt noch heute einen beachtlichen Ruhm, an Kardinal Spellman hingegen erinnern sich wohl nur noch Kirchenhistoriker.
Anlass, sich über die Rückständigkeit früherer Generationen zu mokieren, bietet diese Erkenntnis nicht. Die Frage ist eher, wie einflussreich Sittenwächter heute noch sind. Seit einiger Zeit macht in Frankreich die erzkatholische Organisation »Promouvoir« von sich reden, die alle juristischen Mittel auszuschöpfen bereit ist, um skandalösen Filmen die Jugendfreigabe nachträglich zu entziehen. Mit der Kulturministerin Fleur Pellerin (einer der verheerendsten Personalentscheidungen Francois Hollandes - man erinnere sich an ihr Geständnis, sie kenne keinen Roman des Nobelpreisträgers Patrick Modiano, da ihr nach dem Aktenstudium keine Zeit für weitere Lektüre bleibe) hatte sie leichtes Spiel. Sie ließ zu, dass Filme wie Abdellatif Kechiches »Blau ist ein warme Farbe« nun erst für Zuschauer ab 18 freigegeben sind. Einer der Höhepunkte der Frankfurter Filmreihe ist »Salafistes«, für dessen Regie der mauretanische Journalist Omar Ould Hamaha und der französischen Dokumentarist Francois Margolin (er kommt zur Vorführung) verantwortlich zeichnen. Er zeigt unkommentiert Gewalttaten und Selbstzeugnisse radikaler Islamisten. Als er Anfang des Jahres in Frankreich starten sollte, drängte Pellerin auf ein Verbot des Films. Die Entscheidung, ihn erst ab 18 freizugeben, wurde von Claude Lanzman und anderen als Zensur kritisiert. Tatsächlich bedeutet es, dass er unter anderem nicht im öffentlich-rechtlichen Fernsehen laufen kann. Die Klassifizierung wurde im Februar ausgesetzt. Nun ist das Limbo, in dem er seither verharren musste, vorüber: Das Pariser Verwaltungsgericht entschied gestern, dass er eine Vorführungsfreigabe ab 16 erhält. Möglicherweise bringt ihn der Verleih erneut heraus. Dann hätte er die Chance, im Kino Anstoß zu erregen.
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