Unter Vorbehalt
Meine erste Reaktion war ein heftiger Abwehrreflex. Als ich am Montagmorgen beim Blick in die Internet Movie Database mit angeblich neuen und skandalträchtigen Enthüllungen über die Dreharbeiten zu »Der letzte Tango in Paris« konfrontiert wurde, verdross mich das Lauffeuer der Empörung, dass sich an Nachrichten entzündete, die nicht einmal 140 Zeichen umfassen.
Ich sah mein Vorurteil bestätigt, dass Twitter kein Aufklärungsmedium, sondern ein Aufputschmittel der Erregungen ist. All die Leute, deren Zorn sich hier Bahn bricht, sind es von Berufs wegen doch gewohnt, komplexe Zusammenhänge zu begreifen oder doch zumindest lange Drehbücher zu lesen! Warum also dieser kurzatmige Furor von Jessica Chastain, Anna Kendrick, Chris Evans und der Regisseurin Ava DuVernay in einer Angelegenheit, die nach eingehender Überlegung und Recherche verlangt? Wie wahrscheinlich Hunderttausende andere Leser gewann ich anfangs den Eindruck, es habe sich herausgestellt, der Dreh der notorischen Butter-Szene erfülle tatsächlich den juristischen Tatbestand der Vergewaltigung einer 19jährigen (Maria Schneider) durch einen Mann, der drei Jahrzehnte älter war (Marlon Brando). Chastains Tweet ließ eigentlich keinen Zweifel daran. Das tumbe "Wow", mit dem Evans seine Replik begann (und die dann weiterging mit "Ich werde nie wieder diesen Film oder einen anderen von Bertolucci mit den gleichen Augen sehen") hätte mir eigentlich schon den Rest geben müssen. Und dann forderte er auch noch, dem Regisseur und Brando sollten all ihre Preise aberkannt und sie gefälligst ins Gefängnis gesteckt werden! Letzterem kann es egal sein.
Tatsächlich erregten sich die Gemüter darüber, dass die Simulation einer analen Penetration ohne die Zustimmung der Darstellerin gedreht wurde. Das ist keine Lappalie. Aber schnell verknüpfte sich die Empörung für mich mit einer anderen Nachricht, auf die ich stieß: Die Schulbehörde von Accomack County in Virginia verbannt »Wer die Nachtigall stört« und »Huckleberry Finn« aus dem Leerplan, weil die darin geäußerten, rassistischen Beleidigungen die Empfindungen junger Schüler verletzen könnten. Für mich schien die Welt zurückgekehrt in jenes dunkle Zeitalter naiver Buchstäblichkeit, in dem die künstlerische Darstellung einer verwerflichen Handlung genauso verwerflich ist. Aus den Tweets von Chastain, Evans und Co. sprach für mich dieselbe puritanische Angst, mit dem Bösen in Berührung zu kommen.
Wir aufgeklärten Europäer wissen, dass das Leben anderen, komplexeren Gesetzen gehorcht. Tun wir es wirklich? Selbst der geschätzte "Guardian" reihte sich ein ins Konzert der Empörten und suggerierte, Schneiders spätere Drogensucht und ihr Krebstod seien auf das während der Dreharbeiten durchlebte Trauma zurückzuführen. Die Debatte wirft Fragen auf, die sowohl das Ethos von Filmemachern wie das berichtender Journalisten betreffen. Es gibt viele blinde Flecken, zwei der drei damals Anwesenden sind tot. Die Enthüllungen sind nicht neu, was ihnen nichts von ihrer Brisanz nimmt. Maria Schneider hat vor ihrem Tod in diversen Interviews gesagt, dass sie sich "etwas vergewaltigt" fühlte, weil sie vorher nicht in den genauen Verlauf der Szene eingeweiht wurde. Sie stand im Drehbuch. Aber das nun offenbar entscheidende Detail, dass Brandos Figur Butter als Gleitmittel benutzt, verdankt sich einer gemeinsamen Eingebung des Regisseurs und Hauptdarstellers beim Frühstück. Das darf man als eine misogyne Bevormundung betrachten, als Machtmissbrauch. Bertolucci wollte sie unvorbereitet in die Szene gehen lassen, weil er "nicht ihre Reaktion als Schauspielerin, sondern als junge Frau sehen" wollte. Ich bin kein unbedingter Freund von derlei Naturalismus, sondern traue der Imagination von Schauspielern mehr zu. Anders ausgedrückt: In diesem Fall greift nicht das Credo von John Milius, der Arnold Schwarzenegger beim Dreh zu „Conan, der Barbar“ versicherte, der Schmerz würde vergehen, der Film aber bleiben.
Ich bin übrigens auch nicht sicher, ob die Szene aus Bertoluccis Film, die nun wieder Anstoß erregt, "bleibt". Gewiss, sie hat sich in das Gedächtnis gleich mehrerer Zuschauergenerationen eingegraben. Mich hat sie immer nur insofern interessiert, als ich Sex-Szenen mag, die von mehr als nur dem Geschlechtsakt erzählen, von Glück, Verzweiflung oder Trost beispielsweise, die ihm innewohnen können. »Der letzte Tango von Paris« konnte ich nie anders als in einem Zwiespalt sehen, als Sympton einer sexuellen Revolution, die hauptsächlich die männliche Schaulust von Hemmungen befreite, von der die Selbstbestimmung der Frauen über ihr Bild im Kino aber erst einmal nicht profitierte. Bertolucci hat sich erst nach einigem Zögern und halbherzig gegen die Vorwürfe gewehrt. Er hätte sich gern vor ihrem Tod mit Schneider versöhnt.
Die Affäre lässt sich noch im Licht einer anderen Meldung betrachten, die mir seit einigen Tagen durch den Kopf geht. Die Produzenten der Martin-Amis-Verfilmung »London Fields« wollen die Hauptdarstellerin Amber Heard verklagen, weil sie sich angeblich nicht an die vertragliche Abmachung hielt, in einer Szene nackt aufzutreten. Die Produzenten werfen ihr und dem Regisseur vor, sie wären an diesem Punkt vom Drehbuch abgewichen. Aber ein Drehbuch ist kein Vertrag, sondern die Blaupause eines Films. Seine Umsetzung ist das Spielfeld künstlerischer Freiheit. Ich habe nichts gegen Nacktszenen im Kino, Ich müsste lügen, wenn ich Hitchcock zustimmte, sie "bescherten mir keine besondere Emotion". Ich bewundere den Mut, den es Darsteller kostet, sich dem Blick der Kamera ungeschützt preiszugeben.
Gegen die Kontrollsucht von Produzenten und Sittenwächtern wiederum habe ich viel. In einem der zahllosen Artikel, die der Empörungssturm gebar, war zu erfahren, dass die Regularien der amerikanischen Schauspielergewerkschaft ihre Mitglieder gegen Demütigungen schützt, wie sie Schneider bei den Dreharbeiten zu Bertoluccis Film ausgesetzt war. Allerdings bin ich nicht davon überzeugt, dass sich die Kreativität ihnen in jedem Fall beugen sollte. Sie findet in einer Sphäre statt, die intim und spontan ist und zwischen den Beteiligten ausgehandelt werden muss.
Ein weitere Nachricht drängte sich gestern Abend in diese ohnehin schon heikle Gemengelage: Der Oberste Gerichtshof in Polen hat entschieden, dass das Land Roman Polanski nicht an die USA ausliefern darf, wo seit 40 Jahren eine umstrittene Klage wegen Vergewaltigung gegen ihn anhängig ist. Das freut mich aus zwei Gründen. Einerseits hat das Gericht damit der furchtbaren neuen Regierung widersprochen. Sein Urteil kommt unerwartet. Nun könnte der Regisseur endlich unbehelligt in Krakau seinen geplanten Dreyfus-Film drehen. Aber warum mischt sich in meine Freude darüber nur das Gefühl, ich könnte auf der falschen Seite stehen?
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